6. Biennale von Havanna Thema: Individuum und Gedächtnis
»DESCOBRÍ QUE MINHA ARMA É 0 QUE A MEMÓRIA GUARDA...« Die Führung der nationalen Schicksale liegt heute in den Händen derjenigen, welche die Wirtschaft verwalten. Dabei bleibt den traditionellen politischen Strukturen ein sehr enger Handlungsspielraum. In den letzten Jahren hat die ökonomische Transnationalisierung nicht nur die Rolle der lokalen Regierungen, sondern auch der globalen und regionalen Organisationen ersetzt. Als Antwort auf diese, sowohl in den hochentwickelten Ländern als auch in den sogenannten Entwicklungsländern offenkundige Situation manifestieren sich übertriebener Individualismus und eine Wahrnehmung der Gegenwart als dem einzigen physischen und spirituellen Raum, in dem der Mensch sich verwirklichen kann. Extremer Ausdruck dieser Entwicklung sind der beschworene Sieg des Individuums über die Gesellschaft und eine manipulierte Loslösung von jeder organischen Bindung an die Vergangenheit, aus der die eigentliche Konfiguration des Hier und Jetzt stammt. Für viele ist eines der ernsten Problemen des Menschen in dieser letzten Hälfte des Jahrhunderts der Verlust der Erinnerung als eines Bezugsrahmens für ein veränderndes und verbesserndes Agieren in der Gesellschaft. Um den aktuellen Problemen auszuweichen, breitet sich eine Art Amnesie aus. Die traditionellen Fragestellungen wer sind wir, woher kommen wir, was erwartet uns in der Zukunft, scheinen jede Gültigkeit verloren zu haben in einer entfremdeten Welt, in der ein verschwommener Begriff von Zukunft existiert und man sich nur so gut wie möglich in der Gegenwart einrichten will. Der zeitgenössische Mensch vollzieht seinen Lebensweg zwischen einer überwältigenden Gegenwart voller Gewalt, Drogensüchtigkeit, Diskriminierung, Intoleranz und einer Zukunft der Entbehrungen und Ungewißheiten. Das Gedächtnis als der Ort, an dem der Mensch traditionell die Wurzeln seiner Identität lokalisierte, ist heutzutage durch einen Homogenisierungsprozess gefährdet, bei dem die Bildsprachen immer stärker von transnationalen Informations- und Kommunikationsunternehmen vorgegeben und projiziert werden. Die raffiniertesten Technologien, zu denen als eine der letzten Entwicklungen das Internet gehört, dienen einer angeblichen Internationalisierung, die weit außerhalb der Reichweite der Dritten Welt liegt, welche nicht in der Lage ist, ihre eigenen Informationen in diese Medien einzuspeisen. Trotz allem ist das Gedächtnis in diesem Kontext immer noch identitätstiftend. Denn daraus schöpft der Mensch seine Würde und den Sinn seiner Existenz, sei es aus der persönlichen, familiären oder gemeinschaftlichen Geschichte oder aus der eigenen Kultur. Die Kunst als Ausdruck der CONDITIO HUMANA beugt sich nicht dem Druck und der Bedrohung durch ökonomische und politische Strukturen, welche die Freiheit und die Aktionsräume einzuengen versuchen, für die in der Menschheitsgeschichte so hart gekämpft worden ist. Demgegenüber ist es heutzutage ermutigend, vermehrte Zeichen einer legitimen künstlerischen Suche zu erkennen, die den Menschen ins Zentrum der Problematik zu stellen versucht. Das Zentrum Wifredo Lam macht die Reflexion über den Zusammenhang zwischen dem Menschen und seinem Gedächtnis als Verteidigungsstrategie seiner Identität zum Thema dieser Biennale. In den verschiedenen Ausstellungen werden Künstler vorgestellt, die sich auf Register der Erinnerung berufen, um die Vernichtung ihrer menschlichen und sozialen Identität zu verhindern. Manche widmen sich als Beobachter oder Zeugen der Darstellung dieses Verlustprozesses, andere erleben ihn in sich selbst. Einige wehren sich, indem sie ihre eigene Geschichte oder das historische Gedächtnis retten, das in ihren Regionen ein Erinnern an bis in die Gegenwart reichende, ungelöste Konflikte ist. Oder noch andere, die sich auf ihre Individualität berufen, bauen auf Kommunikation durch menschliche Gefühle, um ihre Identität nicht zu verlieren und auf eine Nummer, einen Teil der Statistiken, reduziert zu werden. (Auszug aus einem vom Centro Wifredo Lam publizierten Pressetext) |