Universes in Universe - Welten der Kunst

26. Biennale São Paulo
25. September - 19. Dezember 2004

São Paulo / 2004

Die Biennale als Território Livre
Von Alfons Hug, Chef-Kurator

Im brasilianischen Pavillon der 46. Biennale von Venedig (1995) wurde Arthur Bispo do Rosários inzwischen legendäre Installation "Faixas de Misses" ausgestellt, die aus 41 Schärpen und Zeptern imaginärer Schönheitsköniginnen aus aller Welt besteht, fein säuberlich nebeneinander aufgereiht, von Brasilien bis Saudi-Arabien. Eine Rangordnung unter den Ländern ist dabei weder erkennbar noch beabsichtigt.

Wieder einmal haben 56 Länder aller Kontinente Bispos poetische Skulptur zitiert und unsere Einladung angenommen, das Beste und Relevanteste aus ihrer derzeitigen Produktion nach São Paulo zu bringen. Die meisten Künstler haben neue Arbeiten geschaffen nach eingehendem Studium von Gebäude und Stadt. In praktisch allen Fällen kam es zu einem erfreulichen Meinungsaustausch zwischen der Biennale und den Kuratoren der einzelnen Länder. Im Gegensatz zu Venedig, wo die teilnehmenden Nationen auf sich selbst gestellt sind und ihre Pavillons selbständig bespielen, gibt es in São Paulo eine räumliche Interaktion zwischen den 56 Künstlern der "representacoes nacionais" und den 80 von der Biennale direkt eingeladenen Künstlern. Mit einer Gesamtzahl von 136 Künstlern ist die Biennale von São Paulo international nach wie vor eine der größten Ausstellungen. Die 25. Biennale war mit 670.000 Besuchern im Jahr 2002 die meistbesuchte Ausstellung zeitgenössischer Kunst in der Welt, sogar noch vor der Documenta in Kassel. Systematisch wird auch diesmal in einem aufwendigen Führungsprogramm (acao educativa) eine ganze Generation von Schülern und Studenten, darunter nicht wenige aus den ärmeren Vororten Sao Paulos, an die zeitgenössische Kunst herangeführt.

Um die thematische Einheit der Gesamtausstellung zu betonen, wurden eingeladene Künstler und jene der Länder auf den 25 000 Quadratmetern des großzügigen Pavillons von Oscar Niemeyer gemischt und nicht künstlich getrennt, wie es früher der Fall war. Bei aller Komplexität der einzelnen Stimmen entsteht so ein gemeinsames Konzert.

Wie immer spricht die Biennale in vielen Idiomen, und grammatisch gesehen in zwei Numeri. Im Plural, weil die Länder ihre eigenen Kuratoren aufgeboten haben, die eine erstaunliche Diversität künstlerischer Positionen vorstellen, und im Singular, weil der Kurator der Biennale auch Gelegenheit hat, seine subjektive Sicht von der Kunst in der Welt kundzutun. Die sog. "Salas Especiais", die in São Paulo Tradition haben und besonders profilierten Künstlern vorbehalten sind, wurden beibehalten. Brasilien stellt wie immer die meisten Künstler: es ist wie alle Länder mit einem Künstler im Segment der "representacao nacional" vertreten. Weitere 18 Brasilianer wurden in die Liste der 80 eingeladenen Künstler aus aller Welt integriert. Davon entfällt je ein Drittel auf Sao Paulo, Rio de Janeiro und auf den Rest des Landes, was nach Einschätzung des Kurators dem aktuellen Stand der Produktion in Brasilien entspricht.

Historisch gesehen verdanken die beiden ältesten Biennalen der Welt, Venedig und São Paulo, ihre Gründung den nationalen Pavillons. Venedig begann 1895 mit einer Handvoll europäischer Länder. São Paulo startete 1951 aus dem Stand mit 20 Staaten aus drei Kontinenten. Als einzige der internationalen Biennalen halten beide Städte an diesem bewährten System fest, das in der Vergangenheit zwar gelegentlich als antiquiert kritisiert wurde, heute aber so lebendig und produktiv wie selten zuvor ist. Nur das System der nationalen Beteiligung ermöglicht herausragende Großprojekte, welche die Biennale allein finanziell überfordern würden. Die nationalen Beteiligungen erlauben es auch, die Kunstentwicklung eines Landes kontinuierlich zu verfolgen. Dies ist von besonderer Bedeutung im Fall von bislang eher peripher eingestuften Nationen, die nicht auf den üblichen Flugrouten der Kritiker liegen. Dass dabei immer wieder erstaunliche Entdeckungen zu machen sind, bewies z.B. der bolivianische Beitrag auf der letzten Biennale von Sao Paulo, der zum Publikumsfavoriten avancierte, oder im Fall von Venedig der Pavillon Luxemburgs, der den großen Preis der Jury gewann.

Die Documenta von Kassel, die 1955 gegründet wurde und keine Länderpavillons besitzt, vervollständigt das Trio der wichtigsten Großausstellungen, die weiterhin als Schrittmacher für die internationale Ausstellungsszene dienen. Während aber Sao Paulo, wo schon in den 60er Jahren fünfzig Länder teilnahmen, von Anfang an wahrhaft international war und den Blick auf die ganze Welt richtete, hat in Kassel und Venedig erst in den letzten Jahren eine Öffnung hin zur Weltkunst und eine Abkehr von der Westkunst stattgefunden. An beiden Orten wurden beispielsweise erst in den 90er Jahren Künstler aus Afrika gezeigt. Die São Paulo Biennale war also immer auch ein Korrektiv zum Eurozentrismus Kassels und Venedigs. Für diese Aufgabe ist sie geradezu prädestiniert, operiert sie doch von einer der größten und plurikulturellsten Städte der Erde aus, wo sich europäische, afrikanische, indigene und asiatische Elemente mischen und produktive Verbindungen eingehen. Neben einer Intensivierung des Nord-Süd-Dialogs hat sie sich deshalb auch eine stärkere Verbindung der außereuropäischen Kulturen auf einer Süd-Süd-Schiene zum Ziel gesetzt.

Süden bezieht sich im Fall der São Paulo Biennale nicht nur auf die geographische Lage, sondern auch auf den Anspruch, in der Welt eine neue Distribution von Kultur zu ermöglichen. Die 26. São Paulo Biennale hat deshalb großen Wert darauf gelegt, auch solche Länder einzuladen, die bislang außerhalb des Mainstream lagen. Dies gilt vor allem für Lateinamerika, Asien und Afrika.

Wenn inzwischen in der Kunstwelt die Hegemonie der nördlichen Hemisphäre durchbrochen wurde, so lassen sich neben positiven endogenen Faktoren, die sich in den Entwicklungsländern selbst herausbildeten, auch in den Industrieländern einige einschneidende Ereignisse aufführen. Im Fall von New York, Paris und London war es der Multikulturalismus, der eine Öffnung hin zu minoritären Kulturen mit sich brachte, die auch auf andere Länder des Westens ausstrahlte und mit dem Gütesiegel der weltweit wichtigsten Kunstmetropolen versehen, stilbildend wirkte und eine ganze Generation von Kritikern und Kuratoren beeinflusst hat. Dies gilt insbesondere für Deutschland, das trotz, oder vielleicht sogar wegen der Documenta die Kunst aus der 3. Welt erst relativ spät, d.h. ab Mitte der 90er Jahre wahrnahm. Im Fall Frankreichs, das schon immer enge kulturelle Beziehungen zu seinen ehemaligen Kolonien unterhielt, war es die Epoche machende Ausstellung "Les Magiciens de la Terre" (1989), die zu einer Neubewertung sog. peripherer Kunst führte.

Mag sein, dass in der Ökonomie die alten Metropolen weiterhin dominieren, in der Kultur haben sich von China bis Brasilien neue Kraftzentren gebildet. Die Kunst korrigiert also die sog. "Mercator-Projektion" der Geographen, die auf den konventionellen Weltkarten die Industrieländer der nördlichen Hemisphäre überdimensioniert erscheinen lässt. Tatsächlich lässt sich ja in den letzten Jahren generell ein gewisser Überdruss an den klassischen Metropolen und der Endgültigkeit und Unverrückbarkeit ihrer sozialen und urbanen Prozesse beobachten. Gesucht werden neue, unverbrauchte Bilder.

Inzwischen gibt es weltweit mehr als 50 Kunstbiennalen, von denen die meisten in den letzten 20 Jahren gegründet wurden und zwar erstaunlicherweise überwiegend außerhalb Europas und Nordamerikas. Die Kunstwelt ist also zum ersten Mal multipolar geworden und hat durch die Biennalen Stützpunkte gebildet an Orten wie Dakar, Cuenca, Sharjah und Gwangju, die bis vor wenigen Jahren auf den Landkarten der Gegenwartskunst nicht vorkamen. "Die anderen Modernen", so der Titel einer Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt im Jahr 1997, sind durchgesetzt. Dabei handelt es sich weniger um einen Prozess der politischen oder wirtschaftlichen Globalisierung, als um einen Akt der kulturellen Emanzipation bislang marginalisierter Regionen. Die zeitgenössische Kunst wurde dadurch endgültig als Weltsprache etabliert, mögen auch die Zentren des Kunsthandelns und –sammelns weiterhin in den Industrieländern des Nordens liegen. Die Biennalen sind also der Ort geworden, wo scheinbar Unversöhnliches aus allen Himmelsrichtungen zusammengeführt wird. Die Moderne hat dabei innerhalb dieser lingua franca regional unterschiedliche visuelle "Dialekte" und plastische Spielarten herausgebildet, die es erlauben, bestimmte Werke einem gewissen Kulturraum zuzuschreiben. So hat die chinesische Kunst beispielsweise einen spezifischen Umgang mit Material entwickelt, der sich durch Originalität und plastische Sensibilität auszeichnet und auch dann noch zu spüren ist, wenn die Künstler mehrere Jahre im Ausland gelebt haben. Ein ebenso starkes Lokalkolorit, das nicht mit Exotismus verwechselt werden darf, besitzt die afrikanische Fotografie, die neue deutsche Malerei oder die brasilianische Skulptur. Pessimismus, der vor einer Einebnung der regionalen Eigenarten warnt, ist völlig unangebracht.

Die internationalen Biennalen sind insofern eine ernstzunehmende Konkurrenz der Documenta geworden, als sie von dieser die Funktion der Talentsuche und des "scoutings" neuer Trends übernommen hat. Aufgrund ihres schnelleren, zweijährigen Rhythmus sind sie näher am Geschehen als die renommierte Kasseler Ausstellung. Die Geschichte der Biennalen ist deshalb auch die Geschichte der Entprovinzialisierung der Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es gibt keine Peripherie im klassischen Sinn mehr, neue Talente bleiben nicht länger verborgen. Der hohe Abstraktionsgrad der bildenden Kunst und ihr nonverbaler Charakter erleichtern den grenzüberschreitenden Verkehr von Kunstwerken und ihren gegenseitigen Austausch.

In dieser Hinsicht hat die São Paulo Biennale nach wie vor eine zentrale Funktion für Brasilien und Südamerika, zwei Weltregionen, die zwar eine beachtliche lokale Produktion von guter Qualität aufweisen, aber auch einen Nachholbedarf an Ausstellungen ausländischer Gegenwartskunst, der von hiesigen Museen und Galerien immer noch nicht befriedigt wird. Nirgends außer in der Biennale sind in Lateinamerika an einem Ort und auf so hohem Niveau versammelt: Videokunst aus Mexiko und Frankreich, Fotografie aus Südafrika und Kanada, Installationen aus Neuseeland und England und Malerei aus China und Österreich. Die Biennale hat mehrere Generationen brasilianischer Künstler und Kritiker mit globalen Entwicklungen konfrontiert und ein günstiges Umfeld für die gesamte Kunst- und Kulturszene des Landes geschaffen. Es nimmt deshalb nicht Wunder, wenn auch abseits der Achse Rio de Janeiro – São Paulo immer wieder erstaunliche Entdeckungen zu machen sind, sei es im Nordosten, im Süden oder im Bundesdistrikt von Brasília.

Ein Dilemma aller Biennalen soll freilich nicht unerwähnt bleiben: die Qual der Wahl. Es ist offensichtlich, dass São Paulo immer versuchen wird, die neuesten Tendenzen in Brasilien oder auch in Südamerika aufzuspüren, genauso wie die europäischen Biennalen sich bemühen werden, auf ihrem Kontinent das Neueste vorzustellen. Soll aber São Paulo ausschließlich das europäische "cutting edge" bringen und dabei Gefahr laufen, eine ganze, ältere Generation, die in Brasilien noch nicht bekannt ist, zu überspringen? Und wird umgekehrt von Venedig erwartet, die jüngste Kunst Südamerikas zu zeigen, oder doch eher die bereits abgesegneten Positionen? Die Antwort wird pragmatisch ausfallen müssen und sich an einer wohl überlegten Mischung aus Bewährtem und Neuem orientieren.

Skulpturenpark-Salon der Malerei- Planetarium der Videos

Das Biennalegebäude, eine weltoffene Ikone der modernen Architektur aus Beton, Stahl und Glas und gleichzeitig auch eine Verkörperung des industriellen Erbes der Stadt, stellt jedes Kunstwerk unwillkürlich in einen Kontext der Moderne und bietet auf einer Größe von 4 Fußballfeldern beste Voraussetzungen für die Präsentation und Rezeption von zeitgenössischer Kunst. Wahrscheinlich ist es von allen Biennalegebäuden der Welt das schönste, nicht zuletzt wegen des luftigen Gewölbes und seiner barock ausladenden Rampe, die in unwiderstehlichen Spiralen alle 3 Etagen durchschneidet. Wie ein strahlendes Kreuzfahrtschiff durchpflügt die Biennale den Ozean der Metropole. Das Gebäude erhält von allen Seiten natürliches Licht, das durch den umliegenden Ibirapuera - Park gefiltert ist und dadurch einen leichten Stich ins Grünliche bekommt. Je nach Tageszeit verändert sich der Lichteinfall und schafft im Pavillon eine neue Lichtdramaturgie, die sich durch eine für die äußeren Tropen typische magische Intensität auszeichnet. Vor allem für Malerei und Fotografie, aber auch für Skulptur und Installation sind damit ideale Ausstellungsmöglichkeiten gegeben.

Der Raumaufteilung haben Kurator und Architekt der 26. Biennale deshalb besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Konzeptionelle, ästhetische und technische Kriterien wurden dabei berücksichtigt. Ausgangspunkt aller Überlegungen war dabei die Architektur des Gebäudes selbst, die eine räumliche Gruppierung von Bildträgern nahe legt. Das großzügige Erdgeschoss mit mehr als sieben Metern Deckenhöhe und Rundumblick in den Ibirapuera Park eignet sich besonders gut für einen Skulpturenpark mit großen, freistehenden dreidimensionalen Werken. Die erste Hälfte des 2. Stockwerks bietet aufgrund des dort herrschenden günstigen Lichts, das von Osten und Westen, aber auch diffus von oben und unten einfällt, ideale Voraussetzungen für einen Salon der Malerei. Die zweite, dunklere Hälfte dieses Mittelgeschosses ist wie geschaffen für ein "Multiplex" der Videoinstallationen, ein Planetarium, in dem sich der Betrachter ungestört in den Kosmos digital erzeugter Bilder versenken kann.

Diese Einteilung erleichtert nicht nur die Orientierung des Publikums, sondern auch die Bildung einer kritischen Masse innerhalb des jeweiligen Mediums. Im Gebäude entstehen so unterschiedliche Gravitationszentren mit ihren jeweiligen spezifischen Temperaturen und ästhetischen Erfahrungen. Crescendi und Diminuendi lösen einander jäh ab.

Das Schwere und Bodenverhaftete der Skulpturen im Erdgeschoss wird durch die ätherische Leichtigkeit im Salon der Malerei aufgefangen. Das zentrale Gewölbe, eine Art "Platz der Apotheose", auf dem sich Skulpturen von Artur Barrio, Cai Guo Quiang und David Batchelor drei Stockwerke hoch aufrecken, stellt eine Klammer dar, die das Gefühl des Zusammenhalts der einzelnen Ausstellungsteile verstärkt. Diese vertikale Achse führt aus den Ruinen der Erde in den eleganten Salon malerischen Raffinements und schließlich in die luftigen Höhen künstlich geschaffener Bilder. Wer fühlte sich angesichts dieser Inszenierung nicht an eine brasilianische Barockstadt mit all ihren Widersprüchen erinnert? Niemeyers elegante Rampe zitiert die grandios geschwungenen Linien von Aleijadinhos Kapelle São Francisco de Assis, während junge brasilianische Bildhauer in kargen Installationen auf den Verfall des Glanzes, etwa in Gestalt der baufälligen "Casa da Baronesa" von Ouro Preto, anspielen. Das Bruchstück war schon immer die edelste Materie der barocken Schöpfung. "Allegorien sind im Reich der Gedanken was Ruinen im Reich der Dinge. Daher denn der barocke Kultus der Ruine" schrieb Walter Benjamin in "Allegorie und Trauerspiel".

Die Fotografie, die Rück- und Querbezüge zur Malerei, Skulptur und zum Video erlaubt, bildet schließlich ein zentrales Bindeglied zwischen den drei anderen Techniken und zieht sich wie eine Kette oder ein roter Faden durch die gesamte Ausstellung. Im zweiten Stock stellt sie einen fließenden Übergang von der Malerei zum Video her. Die Fotografie ist es auch, die verblüffende Parallelen in der Sujetwahl zwischen Künstlern so verschiedener Kulturräume wie Alec Soth (USA) und Zwelethu Mthetwa (Südafrika) oder Simryn Gill (Australien) und Veronika Zapletalová (Tschechische Republik) zu Tage fördert.

Die Biennale im Dialog mit São Paulo

Beim Design der Ausstellung wurde darauf geachtet, die Fensterfronten möglichst unverbaut zu lassen, so dass der Ausblick auf die Skyline von São Paulo erhalten bleibt und somit ein Dialog der Kunstwerke mit der Stadt selbst möglich wird. Tatsächlich sind Biennale und Stadt historisch gesehen unzertrennlich. Das eine bedingt das andere. Beide sind aufs engste verbunden mit dem größten Modernisierungsprojekt, das der südliche Kontinent je gekannt hat. Beide wuchsen im selben Rhythmus, erzeugten dieselbe Energie und waren gelegentlich auch Opfer derselben Krisen. Auch in der Architektur scheint die Stadt manche der Verwerfungen und Verunsicherungen mitvollzogen zu haben, die von der Kunst der letzten Jahrzehnte ausgegangen sind. Tatsächlich wirkt São Paulo ja bis heute wie eine temporäre Ausstellung, oder besser gesagt, wie ein riesiger Show Room mit lauter provisorischen Exponaten, über denen der Bronzekeil aus Jospeh Beuys´ legendärer Installation "Blitz mit Lichtschein auf Hirschkuh" (20. Biennale) bedrohlich irrlichtert, so wie Kafkas Faust über dem Turmbau zu Babel. Es ist sicher kein Zufall, dass gerade die brasilianische Kunst, deren Stärke seit vielen Jahren in raumgreifenden, dreidimensionalen Arbeiten liegt, der Stadt immer wieder Hindernisse in Form von Skulpturen und Installationen in den Weg gelegt hat, als letzte Warnung vor der ungebremsten Fahrt ins Ungewisse. Der fieberhaften, flüchtigen Jugendlichkeit der Stadt mit ihrem raschen Verfallsdatum setzt sie dauerhaftes Material entgegen.

Die Künstler haben aber auch in Exkursen ins Hinterland trotzig darauf bestanden, dass es jenseits der Hochhäuser von São Paulo noch ein weites Land gibt, das einem gemächlicheren Rhythmus folgt. Ländliche Abgeschiedenheit, ökologische Intaktheit und Verlangsamung des Tempos symbolisieren Artur Barrios "Jangada" aus dem Nordosten, Ieda de Oliveiras Beichtstuhl oder auch Huang Yong Pings monumentaler Safari-Elephant.

Generell lässt sich in vielen der ausgestellten Arbeiten eine gesunde Skepsis gegenüber der Industriegesellschaft und der digitalen Welt feststellen. Zweifel machen sich breit an der Technik und ihren Versprechungen. Bevorzugte Materialien vieler Bildhauer sind deshalb "altes, morsches Holz" – so die Übersetzung des indigenen Worts "Ibirapuera" - und ärmliche Gegenstände aller Art, die in einfachen, handwerklichen Verfahren ohne großen technischen Aufwand verarbeitet werden. Diese Poesie des Prekären taucht auch in den Sujets vieler Fotografen auf. Kein Wunder also, dass auch die Zeichnung wieder zu Ehren kommt, ist sie doch in ihrer Bescheidenheit und ihrem Anspruch auf Unvollständigkeit das Anti-Hightech – Medium schlechthin. Diese Beobachtungen treffen übrigens sowohl auf Künstler der ersten wie der dritten Welt zu.

Humboldt in der Urwaldhütte

Seit der Ankunft der Europäer in Südamerika hielt sich der Mythos vom sagenhaften Goldland "El Dorado", das in den Weiten zwischen dem Osthang der Anden und den Urwäldern an Orinoko und Amazonas vermutet wurde. An der Suche nach diesem märchenhaften Ort, wo alle Gebäude aus purem Gold waren und die Kinder mit Edelsteinen spielten, beteiligten sich Konquistadoren aus aller Herren Länder.

Schon Kolumbus hatte in seinem berühmten Brief ans spanische Königshaus (Carta a los Reyes Católicos), der die dritte Reise des Admirals im Jahr 1498 beschreibt, den Nordosten Südamerikas als "Tierra de Gracia" bezeichnet, wo das irdische Paradies liegen musste. Dass El Dorado gleichzeitig auch als Heimat der Amazonen galt, machte das Fabelland nur noch geheimnisvoller.

Mitte des 19. Jahrhunderts schuf Eduard Ender sein in der Tradition der deutschen Romantik stehendes Gemälde "Humboldt und Bonpland in ihrer Urwaldhütte". Ender malte ein selbstbewusstes Forscherpaar, das mit einem Sammelsurium von Instrumenten die tropische Natur vermisst, ganz so, als sei diese für immer beherrschbar und verständlich. Die Begegnung der Europäer mit der Neuen Welt erscheint harmonisch, nichts trübt die Idylle dieses " Erdlebenbildes" am Orinoko, so der damalige Ausdruck für ein Landschaftsgemälde.

Seit Alexander von Humboldt vor 200 Jahren mit seinen Messinstrumenten den Kontinent bereiste und die modernen Wissenschaften begründete, wurden immer wieder europäische und später nordamerikanische Modelle importiert, die letztlich zu einer unglückseligen Dependenz auf vielen Gebieten führte. Ob Sozialismus oder Neoliberalismus, ob Chicago Boys oder London School of Economics, immer wieder waren es eingeführte Systeme, die nur selten zum Erfolg führten.

Vielversprechender erscheint also eine allein ästhetisch legitimierte Wiederentdeckung und Neuerfindung Amerikas über die Künste, die dem Kontinent ein eigenes Gesicht geben können. In dieser Hinsicht hat die São Paulo Biennale wie auch ihre jüngere Schwester in Porto Alegre eine zentrale Aufgabe. Womöglich wird die Einheit Amerikas über die Kultur schneller und leichter zu bewerkstelligen sein als über politische und wirtschaftliche Prozesse. Die Kunst hat das Zeug zu einem modernen "Nheengatu", jener lingua franca aus Dialekten des Tupi-Guarani, das in der Kolonialzeit als Verkehrssprache diente und in ländlichen Gebieten Brasiliens noch heute als "língua geral" fortlebt.

Vom Niemandsland der Kunst

Das Thema der 26. Biennale wurde so gewählt, dass eine Fülle von künstlerischen Positionen sich darin wiederfinden können. Der Begriff Niemandsland hat mehrere Dimensionen: eine physisch-geographische, eine politisch-soziale und schließlich eine ästhetische, die uns im Kontext der Ausstellung naturgemäß am meisten interessiert.

Das Niemandsland der Ästhetik beginnt dort, wo die gewöhnliche Welt aufhört. Es bezeichnet jenen Raum, in dem Wirklichkeit und Imagination miteinander im Widerstreit liegen. Künstler sind Grenzwächter eines Reichs, das jenseits der verwalteten Welt liegt, und wo die Deutungshoheit von Politik und Wirtschaft nicht mehr hinreicht. Während alle Welt sich ständig über die Frage streitet, wem was gehört, klärt die Kunst die Besitzverhältnisse auf ihre Weise: Im Reich der Ästhetik gehört keinem etwas, und allen alles.

Im Rahmen der Biennale interessiert uns nun, wie die Verwüstungen der realen Welt und der zwischenmenschlichen Beziehungen sich in der Kunst niederschlagen. Da Kunstwerke mehr sind als bloße Fakten, wird eine künstlerische Verdichtung von Phänomenen der Realität immer mehrdeutiger und komplexer sein als simple Reportage. Diese Regel gilt auch dann, wenn der Künstler sich mit Fotografie und Video zweier Medien bedient, denen eine hohe Realitätsnähe zugesprochen wird. Künstler sind zwar eingebettet in Konflikte, aber sie verdoppeln nicht die Welt, sondern schaffen Freiräume innerhalb der Wirklichkeit. Den irdischen Rohstoff überführen sie mithilfe von Metaphern und Symbolen in einen neuen, sinnlich erfahrbaren Zustand. Das Kunstwerk offenbart Anderes; es ist Allegorie. Die Kunst existiert außerhalb der Kausalität und darf nicht im eisernen Gehäuse profaner Zwänge gefangen sein. In einer Biennale kann es also nicht darum gehen, Gesinnungen auszustellen.

Die Vielzahl dokumentarischer Strategien, die in den letzten Jahren auch auf internationalen Großausstellungen zu beobachten waren, legt den Schluss nahe, dass das Vertrauen in die Macht der Ästhetik schwindet. Angesichts des prekären Zustands der Welt und der Dringlichkeit ihrer Probleme scheinen Künstler und Kuratoren das Heil in wissenschaftlicher Analyse, Reportage und diskursiver Abhandlung der Realität zu suchen, in eklatanter Verkennung der Möglichkeiten ästhetischer Prozesse.

Künstler schaffen ein herrschaftsfreies Gebiet und damit eine Gegenwelt zur real existierenden: ein Land der Leere, der Stille, und des Innehaltens, in dem die Raserei, die uns umgibt, für einen Augenblick angehalten wird. Aber auch ein Land des Rätsels, in dem die Flut einfältiger Botschaften, die uns aus den Brutstätten des Kitsch entgegenschlägt, verschlüsselt werden. Indem der Künstler materielle Grenzen durchbricht, wird er zum Schmuggler von Bildern zwischen den Kulturen.

Die Biennale als extraterritoriales Gebiet

An Versuchen, das Niemandsland zu kolonisieren, hat es in Brasilien nicht gefehlt. Erinnert sei an die Gründung von Brasilia und, noch etwas früher, vor gut 50 Jahren, der Biennale von São Paulo. Beide sind natürliche Verbündete, da sie demselben aufgeklärten Geist entspringen und die Berufung zum Aufbruch teilen. Sie wurden als Steinbruch neuer Bilder konzipiert und haben dem Land den Weg in die Moderne geebnet.

Die São Paulo Biennale ist ein extraterritoriales Gebiet, in dem die Künstler ihre utopischen Siedlungen errichten. Sie ist ein geschütztes Reservat, wo Warenströme versiegen und politische Strategien versagen. Die Biennale versteht sich als letztes Differential, in dem sich jene kritische Masse und positive Energie ansammeln, die erst die Voraussetzung zur Transformation der Gesellschaft schaffen und die neue Formen des menschlichen Zusammenlebens erahnen lassen. Jede Künstlergeneration ist dazu aufgerufen, dieses Niemandsland neu zu vermessen und seine Umrisse zu zeichnen.

Nur die Künste verfügen über einen universellen Vorrat an Zeichen und Archetypen, deren Austausch das kollektive Gedächtnis der Menschheit mobilisiert. Wenn der Künstler also ein Bilderschmuggler ist, dann kann die Biennale ein Umschlagsplatz im Reich der Ästhetik sein, wo Neugier gepaart mit Eroberungslust als Ausweis und ein wacher Sinn als Eintrittskarte genügen, wo zwar kostbare Güter gehandelt, aber keine Zölle erhoben werden.

Don Quixotes Testament

"y si algo sobrare....." (und falls etwas übrigbleiben sollte), endet lakonisch das Testament von Don Quixote, der am Ende seines an Abenteuern so reichen Lebens nur noch wenig zu vermachen hatte. Auch in der Ökonomie scheint nie etwas übrig bleiben zu wollen: Schulden, salário mínimo, cesta básica, Zinsen, Ratenzahlungen – nie reicht es. Die modernen Gesellschaften, sowohl in der entwickelten wie in der unterentwickelten Welt, versuchen dieses ewige Nullsummenspiel dadurch zu gewinnen, dass sie immer neue Instrumente, Charts und Indizes zur Messung und Steuerung der Wirtschaft entwickeln und immer größere Heere von sog. "Analysten" beschäftigen. Der Markt erscheint als veritabler Minotaurus, der nicht wie in der Antike sieben Jungfrauen, sondern nunmehr die gesamte Gesellschaft zu verschlingen droht.

Kein Wunder, dass auch in Brasilien die Ökonomie die Agenda beherrscht und alle anderen Gesellschaftsbereiche auf die Hinterbank verbannt werden. Auf der groben Waage der Ökonomie hat das Geistige wenig Gewicht. Angesichts dieses "Cargo Cults" (Diese Religion entstand im zweiten Weltkrieg, als die amerikanischen Truppen zur Versorgung ihrer Soldaten auf den pazifischen Inseln an Fallschirmen Nahrungsmittel abwarfen, die von der einheimischen, melanesischen Bevölkerung als Gottesgabe empfangen wurden) wird der Ruf nach der Kunst immer lauter, jener klassischen Form der Antiökonomie, die das Primat der Finanzmärkte für einen kostbaren Augenblick außer Kraft setzt und den Tanz ums goldene Kalb beendet.

Die Kunst schafft in ihrer "Nutzlosigkeit", die freilich nicht bedeutet, dass sie überflüssig wäre, einen kulturellen Mehrwert, den keine noch so ausgefeilte Statistik erfasst. Ihr Materialwert ist unbedeutend, der ideelle Wert hingegen gewaltig. In Zeiten, wo alles einen Zweck und Nutzen haben soll, glänzt die Kunst mit "reinem uninteressierten Wohlgefallen" (Kant). Kunst stellt das Unverkäufliche dar – Lust und Unlust - und ist damit die Abwesenheit von Ökonomie. Was eine Funktion hat ist ersetzlich; unersetzlich nur, was zu nichts taugt (T. Adorno). Die Kunst produziert mit ihrem symbolischen Kapital somit einen ästhetischen Überschuss, welcher das permanente wirtschaftliche Defizit kompensiert.

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© Copyright Text: Alfons Hug, Juli 2004

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São Paulo / 2004