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Im brasilianischen Pavillon der 46. Biennale von
Venedig (1995) wurde Arthur Bispo do Rosários inzwischen legendäre Installation "Faixas
de Misses" ausgestellt, die aus 41 Schärpen und Zeptern
imaginärer Schönheitsköniginnen aus aller Welt
besteht, fein säuberlich nebeneinander aufgereiht, von Brasilien
bis Saudi-Arabien. Eine Rangordnung unter den Ländern ist
dabei weder erkennbar noch beabsichtigt.
Wieder einmal haben 56 Länder aller Kontinente Bispos poetische
Skulptur zitiert und unsere Einladung angenommen, das Beste und
Relevanteste aus ihrer derzeitigen Produktion nach São
Paulo zu bringen. Die meisten Künstler haben neue Arbeiten
geschaffen nach eingehendem Studium von Gebäude und Stadt.
In praktisch allen Fällen kam es zu einem erfreulichen Meinungsaustausch
zwischen der Biennale und den Kuratoren der einzelnen Länder.
Im Gegensatz zu Venedig, wo die teilnehmenden Nationen auf sich
selbst gestellt sind und ihre Pavillons selbständig bespielen,
gibt es in São Paulo eine räumliche Interaktion zwischen
den 56 Künstlern der "representacoes nacionais"
und den 80 von der Biennale direkt eingeladenen Künstlern.
Mit einer Gesamtzahl von 136 Künstlern ist die Biennale von
São Paulo international nach wie vor eine der größten
Ausstellungen. Die 25. Biennale war mit 670.000 Besuchern im Jahr
2002 die meistbesuchte Ausstellung zeitgenössischer Kunst
in der Welt, sogar noch vor der Documenta in Kassel. Systematisch
wird auch diesmal in einem aufwendigen Führungsprogramm (acao
educativa) eine ganze Generation von Schülern und Studenten,
darunter nicht wenige aus den ärmeren Vororten Sao Paulos,
an die zeitgenössische Kunst herangeführt.
Um die thematische Einheit der Gesamtausstellung zu betonen,
wurden eingeladene Künstler und jene der Länder auf
den 25 000 Quadratmetern des großzügigen Pavillons
von Oscar Niemeyer gemischt und nicht künstlich getrennt,
wie es früher der Fall war. Bei aller Komplexität der einzelnen Stimmen entsteht so ein
gemeinsames Konzert.
Wie immer spricht die Biennale in vielen Idiomen, und grammatisch
gesehen in zwei Numeri. Im Plural, weil die Länder ihre eigenen
Kuratoren aufgeboten haben, die eine erstaunliche Diversität
künstlerischer Positionen vorstellen, und im Singular, weil
der Kurator der Biennale auch Gelegenheit hat, seine subjektive
Sicht von der Kunst in der Welt kundzutun. Die sog. "Salas
Especiais", die in São Paulo Tradition haben und besonders
profilierten Künstlern vorbehalten sind, wurden beibehalten.
Brasilien stellt wie immer die meisten Künstler: es ist wie
alle Länder mit einem Künstler im Segment der "representacao
nacional" vertreten. Weitere 18 Brasilianer wurden in die
Liste der 80 eingeladenen Künstler aus aller Welt integriert.
Davon entfällt je ein Drittel auf Sao Paulo, Rio de Janeiro
und auf den Rest des Landes, was nach Einschätzung des Kurators
dem aktuellen Stand der Produktion in Brasilien entspricht.
Historisch gesehen verdanken die beiden ältesten Biennalen
der Welt, Venedig und São Paulo, ihre Gründung den
nationalen Pavillons. Venedig begann 1895 mit einer Handvoll europäischer
Länder. São Paulo startete 1951 aus dem Stand mit
20 Staaten aus drei Kontinenten. Als einzige der internationalen
Biennalen halten beide Städte an diesem bewährten System
fest, das in der Vergangenheit zwar gelegentlich als antiquiert
kritisiert wurde, heute aber so lebendig und produktiv wie selten
zuvor ist. Nur das System der nationalen Beteiligung ermöglicht
herausragende Großprojekte, welche die Biennale allein finanziell
überfordern würden. Die nationalen Beteiligungen erlauben
es auch, die Kunstentwicklung eines Landes kontinuierlich zu verfolgen.
Dies ist von besonderer Bedeutung im Fall von bislang eher peripher
eingestuften Nationen, die nicht auf den üblichen Flugrouten
der Kritiker liegen. Dass dabei immer wieder erstaunliche Entdeckungen
zu machen sind, bewies z.B. der bolivianische Beitrag auf der
letzten Biennale von Sao Paulo, der zum Publikumsfavoriten avancierte,
oder im Fall von Venedig der Pavillon Luxemburgs, der den großen
Preis der Jury gewann.
Die Documenta von Kassel, die 1955 gegründet wurde und keine
Länderpavillons besitzt, vervollständigt das Trio der
wichtigsten Großausstellungen, die weiterhin als Schrittmacher
für die internationale Ausstellungsszene dienen. Während
aber Sao Paulo, wo schon in den 60er Jahren fünfzig Länder
teilnahmen, von Anfang an wahrhaft international war und den Blick
auf die ganze Welt richtete, hat in Kassel und Venedig erst in
den letzten Jahren eine Öffnung hin zur Weltkunst und eine
Abkehr von der Westkunst stattgefunden. An beiden Orten wurden
beispielsweise erst in den 90er Jahren Künstler aus Afrika
gezeigt. Die São Paulo Biennale war also immer auch
ein Korrektiv zum Eurozentrismus Kassels und Venedigs. Für
diese Aufgabe ist sie geradezu prädestiniert, operiert sie
doch von einer der größten und plurikulturellsten Städte
der Erde aus, wo sich europäische, afrikanische, indigene
und asiatische Elemente mischen und produktive Verbindungen eingehen.
Neben einer Intensivierung des Nord-Süd-Dialogs hat sie sich
deshalb auch eine stärkere Verbindung der außereuropäischen
Kulturen auf einer Süd-Süd-Schiene zum Ziel gesetzt.
Süden bezieht sich im Fall der São Paulo Biennale
nicht nur auf die geographische Lage, sondern auch auf den Anspruch,
in der Welt eine neue Distribution von Kultur zu ermöglichen.
Die 26. São Paulo Biennale hat deshalb großen
Wert darauf gelegt, auch solche Länder einzuladen, die bislang
außerhalb des Mainstream lagen. Dies gilt vor allem für
Lateinamerika, Asien und Afrika.
Wenn inzwischen in der Kunstwelt die Hegemonie der nördlichen
Hemisphäre durchbrochen wurde, so lassen sich neben positiven
endogenen Faktoren, die sich in den Entwicklungsländern selbst
herausbildeten, auch in den Industrieländern einige einschneidende
Ereignisse aufführen. Im Fall von New York, Paris und London
war es der Multikulturalismus, der eine Öffnung hin zu minoritären
Kulturen mit sich brachte, die auch auf andere Länder des
Westens ausstrahlte und mit dem Gütesiegel der weltweit wichtigsten
Kunstmetropolen versehen, stilbildend wirkte und eine ganze Generation
von Kritikern und Kuratoren beeinflusst hat. Dies gilt insbesondere
für Deutschland, das trotz, oder vielleicht sogar wegen der
Documenta die Kunst aus der 3. Welt erst relativ spät, d.h.
ab Mitte der 90er Jahre wahrnahm. Im Fall Frankreichs, das schon
immer enge kulturelle Beziehungen zu seinen ehemaligen Kolonien
unterhielt, war es die Epoche machende Ausstellung "Les Magiciens
de la Terre" (1989), die zu einer Neubewertung sog. peripherer
Kunst führte.
Mag sein, dass in der Ökonomie die alten Metropolen weiterhin
dominieren, in der Kultur haben sich von China bis Brasilien neue
Kraftzentren gebildet. Die Kunst korrigiert also die sog. "Mercator-Projektion"
der Geographen, die auf den konventionellen Weltkarten die Industrieländer
der nördlichen Hemisphäre überdimensioniert erscheinen
lässt. Tatsächlich lässt sich ja in den letzten
Jahren generell ein gewisser Überdruss an den klassischen
Metropolen und der Endgültigkeit und Unverrückbarkeit
ihrer sozialen und urbanen Prozesse beobachten. Gesucht werden
neue, unverbrauchte Bilder.
Inzwischen gibt es weltweit mehr als 50 Kunstbiennalen, von denen
die meisten in den letzten 20 Jahren gegründet wurden und
zwar erstaunlicherweise überwiegend außerhalb Europas
und Nordamerikas. Die Kunstwelt ist also zum ersten Mal multipolar
geworden und hat durch die Biennalen Stützpunkte gebildet
an Orten wie Dakar, Cuenca, Sharjah und Gwangju, die bis vor wenigen
Jahren auf den Landkarten der Gegenwartskunst nicht vorkamen.
"Die anderen Modernen", so der Titel einer Ausstellung
im Berliner Haus der Kulturen der Welt im Jahr 1997, sind durchgesetzt.
Dabei handelt es sich weniger um einen Prozess der politischen
oder wirtschaftlichen Globalisierung, als um einen Akt der kulturellen
Emanzipation bislang marginalisierter Regionen. Die zeitgenössische
Kunst wurde dadurch endgültig als Weltsprache etabliert,
mögen auch die Zentren des Kunsthandelns und –sammelns
weiterhin in den Industrieländern des Nordens liegen. Die
Biennalen sind also der Ort geworden, wo scheinbar Unversöhnliches
aus allen Himmelsrichtungen zusammengeführt wird. Die Moderne
hat dabei innerhalb dieser lingua franca regional unterschiedliche
visuelle "Dialekte" und plastische Spielarten herausgebildet,
die es erlauben, bestimmte Werke einem gewissen Kulturraum zuzuschreiben.
So hat die chinesische Kunst beispielsweise einen spezifischen
Umgang mit Material entwickelt, der sich durch Originalität
und plastische Sensibilität auszeichnet und auch dann noch
zu spüren ist, wenn die Künstler mehrere Jahre im Ausland
gelebt haben. Ein ebenso starkes Lokalkolorit, das nicht mit Exotismus
verwechselt werden darf, besitzt die afrikanische Fotografie,
die neue deutsche Malerei oder die brasilianische Skulptur. Pessimismus,
der vor einer Einebnung der regionalen Eigenarten warnt, ist völlig
unangebracht.
Die internationalen Biennalen sind insofern eine ernstzunehmende
Konkurrenz der Documenta geworden, als sie von dieser die Funktion
der Talentsuche und des "scoutings" neuer Trends übernommen
hat. Aufgrund ihres schnelleren, zweijährigen Rhythmus sind
sie näher am Geschehen als die renommierte Kasseler Ausstellung.
Die Geschichte der Biennalen ist deshalb auch die Geschichte der
Entprovinzialisierung der Kunst in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts. Es gibt keine Peripherie im klassischen Sinn
mehr, neue Talente bleiben nicht länger verborgen. Der hohe
Abstraktionsgrad der bildenden Kunst und ihr nonverbaler Charakter
erleichtern den grenzüberschreitenden Verkehr von Kunstwerken
und ihren gegenseitigen Austausch.
In dieser Hinsicht hat die São Paulo Biennale nach
wie vor eine zentrale Funktion für Brasilien und Südamerika,
zwei Weltregionen, die zwar eine beachtliche lokale Produktion
von guter Qualität aufweisen, aber auch einen Nachholbedarf
an Ausstellungen ausländischer Gegenwartskunst, der von hiesigen
Museen und Galerien immer noch nicht befriedigt wird. Nirgends
außer in der Biennale sind in Lateinamerika an einem Ort
und auf so hohem Niveau versammelt: Videokunst aus Mexiko und
Frankreich, Fotografie aus Südafrika und Kanada, Installationen
aus Neuseeland und England und Malerei aus China und Österreich.
Die Biennale hat mehrere Generationen brasilianischer Künstler
und Kritiker mit globalen Entwicklungen konfrontiert und ein günstiges
Umfeld für die gesamte Kunst- und Kulturszene des Landes
geschaffen. Es nimmt deshalb nicht Wunder, wenn auch abseits der
Achse Rio de Janeiro – São Paulo immer wieder erstaunliche
Entdeckungen zu machen sind, sei es im Nordosten, im Süden
oder im Bundesdistrikt von Brasília.
Ein Dilemma aller Biennalen soll freilich nicht
unerwähnt bleiben: die Qual der Wahl. Es ist offensichtlich,
dass São Paulo immer versuchen wird, die neuesten Tendenzen
in Brasilien oder auch in Südamerika aufzuspüren, genauso
wie die europäischen Biennalen sich bemühen werden,
auf ihrem Kontinent das Neueste vorzustellen. Soll aber São
Paulo ausschließlich das europäische "cutting
edge" bringen und dabei Gefahr laufen, eine ganze, ältere
Generation, die in Brasilien noch nicht bekannt ist, zu überspringen?
Und wird umgekehrt von Venedig erwartet, die jüngste Kunst
Südamerikas zu zeigen, oder doch eher die bereits abgesegneten
Positionen? Die Antwort wird pragmatisch ausfallen müssen
und sich an einer wohl überlegten Mischung aus Bewährtem
und Neuem orientieren.
Skulpturenpark-Salon der Malerei- Planetarium der Videos
Das Biennalegebäude, eine weltoffene Ikone der modernen
Architektur aus Beton, Stahl und Glas und gleichzeitig auch eine
Verkörperung des industriellen Erbes der Stadt, stellt jedes
Kunstwerk unwillkürlich in einen Kontext der Moderne und
bietet auf einer Größe von 4 Fußballfeldern beste
Voraussetzungen für die Präsentation und Rezeption von
zeitgenössischer Kunst. Wahrscheinlich ist es von allen Biennalegebäuden
der Welt das schönste, nicht zuletzt wegen des luftigen Gewölbes
und seiner barock ausladenden Rampe, die in unwiderstehlichen
Spiralen alle 3 Etagen durchschneidet. Wie ein strahlendes Kreuzfahrtschiff
durchpflügt die Biennale den Ozean der Metropole. Das Gebäude
erhält von allen Seiten natürliches Licht, das durch
den umliegenden Ibirapuera - Park gefiltert ist und dadurch einen
leichten Stich ins Grünliche bekommt. Je nach Tageszeit verändert
sich der Lichteinfall und schafft im Pavillon eine neue Lichtdramaturgie,
die sich durch eine für die äußeren Tropen typische
magische Intensität auszeichnet. Vor allem für Malerei
und Fotografie, aber auch für Skulptur und Installation sind
damit ideale Ausstellungsmöglichkeiten gegeben.
Der Raumaufteilung haben Kurator und Architekt der 26. Biennale
deshalb besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Konzeptionelle, ästhetische
und technische Kriterien wurden dabei berücksichtigt. Ausgangspunkt
aller Überlegungen war dabei die Architektur des Gebäudes
selbst, die eine räumliche Gruppierung von Bildträgern
nahe legt. Das großzügige Erdgeschoss mit mehr als
sieben Metern Deckenhöhe und Rundumblick in den Ibirapuera
Park eignet sich besonders gut für einen Skulpturenpark mit
großen, freistehenden dreidimensionalen Werken. Die erste
Hälfte des 2. Stockwerks bietet aufgrund des dort herrschenden
günstigen Lichts, das von Osten und Westen, aber auch diffus
von oben und unten einfällt, ideale Voraussetzungen für
einen Salon der Malerei. Die zweite, dunklere Hälfte dieses
Mittelgeschosses ist wie geschaffen für ein "Multiplex"
der Videoinstallationen, ein Planetarium, in dem sich der Betrachter
ungestört in den Kosmos digital erzeugter Bilder versenken
kann.
Diese Einteilung erleichtert nicht nur die Orientierung des Publikums,
sondern auch die Bildung einer kritischen Masse innerhalb des
jeweiligen Mediums. Im Gebäude entstehen so unterschiedliche
Gravitationszentren mit ihren jeweiligen spezifischen Temperaturen
und ästhetischen Erfahrungen. Crescendi und Diminuendi lösen
einander jäh ab.
Das Schwere und Bodenverhaftete der Skulpturen im Erdgeschoss
wird durch die ätherische Leichtigkeit im Salon der Malerei
aufgefangen. Das zentrale Gewölbe, eine Art "Platz der
Apotheose", auf dem sich Skulpturen von Artur Barrio, Cai
Guo Quiang und David Batchelor drei Stockwerke hoch aufrecken,
stellt eine Klammer dar, die das Gefühl des Zusammenhalts
der einzelnen Ausstellungsteile verstärkt. Diese vertikale
Achse führt aus den Ruinen der Erde in den eleganten Salon
malerischen Raffinements und schließlich in die luftigen
Höhen künstlich geschaffener Bilder. Wer fühlte
sich angesichts dieser Inszenierung nicht an eine brasilianische
Barockstadt mit all ihren Widersprüchen erinnert? Niemeyers
elegante Rampe zitiert die grandios geschwungenen Linien von Aleijadinhos
Kapelle São Francisco de Assis, während junge brasilianische
Bildhauer in kargen Installationen auf den Verfall des Glanzes,
etwa in Gestalt der baufälligen "Casa da Baronesa"
von Ouro Preto, anspielen. Das Bruchstück war schon immer
die edelste Materie der barocken Schöpfung. "Allegorien
sind im Reich der Gedanken was Ruinen im Reich der Dinge. Daher
denn der barocke Kultus der Ruine" schrieb Walter Benjamin
in "Allegorie und Trauerspiel".
Die Fotografie, die Rück- und Querbezüge
zur Malerei, Skulptur und zum Video erlaubt, bildet schließlich
ein zentrales Bindeglied zwischen den drei anderen Techniken und
zieht sich wie eine Kette oder ein roter Faden durch die gesamte
Ausstellung. Im zweiten Stock stellt sie einen fließenden
Übergang von der Malerei zum Video her. Die Fotografie ist
es auch, die verblüffende Parallelen in der Sujetwahl zwischen
Künstlern so verschiedener Kulturräume wie Alec Soth
(USA) und Zwelethu Mthetwa (Südafrika) oder Simryn Gill (Australien)
und Veronika Zapletalová (Tschechische Republik) zu Tage
fördert.
Die Biennale im Dialog mit São Paulo
Beim Design der Ausstellung wurde darauf geachtet, die Fensterfronten
möglichst unverbaut zu lassen, so dass der Ausblick auf die
Skyline von São Paulo erhalten bleibt und somit ein Dialog
der Kunstwerke mit der Stadt selbst möglich wird. Tatsächlich
sind Biennale und Stadt historisch gesehen unzertrennlich. Das
eine bedingt das andere. Beide sind aufs engste verbunden mit
dem größten Modernisierungsprojekt, das der südliche
Kontinent je gekannt hat. Beide wuchsen im selben Rhythmus, erzeugten
dieselbe Energie und waren gelegentlich auch Opfer derselben Krisen.
Auch in der Architektur scheint die Stadt manche der Verwerfungen
und Verunsicherungen mitvollzogen zu haben, die von der Kunst
der letzten Jahrzehnte ausgegangen sind. Tatsächlich wirkt
São Paulo ja bis heute wie eine temporäre Ausstellung,
oder besser gesagt, wie ein riesiger Show Room mit lauter provisorischen
Exponaten, über denen der Bronzekeil aus Jospeh Beuys´
legendärer Installation "Blitz mit Lichtschein auf Hirschkuh"
(20. Biennale) bedrohlich irrlichtert, so wie Kafkas Faust über
dem Turmbau zu Babel. Es ist sicher kein Zufall, dass gerade die
brasilianische Kunst, deren Stärke seit vielen Jahren in
raumgreifenden, dreidimensionalen Arbeiten liegt, der Stadt immer
wieder Hindernisse in Form von Skulpturen und Installationen in
den Weg gelegt hat, als letzte Warnung vor der ungebremsten Fahrt
ins Ungewisse. Der fieberhaften, flüchtigen Jugendlichkeit
der Stadt mit ihrem raschen Verfallsdatum setzt sie dauerhaftes
Material entgegen.
Die Künstler haben aber auch in Exkursen ins Hinterland
trotzig darauf bestanden, dass es jenseits der Hochhäuser
von São Paulo noch ein weites Land gibt, das einem gemächlicheren
Rhythmus folgt. Ländliche Abgeschiedenheit, ökologische
Intaktheit und Verlangsamung des Tempos symbolisieren Artur Barrios
"Jangada" aus dem Nordosten, Ieda de Oliveiras Beichtstuhl
oder auch Huang Yong Pings monumentaler Safari-Elephant.
Generell lässt sich in vielen der ausgestellten
Arbeiten eine gesunde Skepsis gegenüber der Industriegesellschaft
und der digitalen Welt feststellen. Zweifel machen sich breit
an der Technik und ihren Versprechungen. Bevorzugte Materialien
vieler Bildhauer sind deshalb "altes, morsches Holz"
– so die Übersetzung des indigenen Worts "Ibirapuera"
- und ärmliche Gegenstände aller Art, die in einfachen, handwerklichen
Verfahren ohne großen technischen Aufwand verarbeitet werden.
Diese Poesie des Prekären taucht auch in den Sujets vieler
Fotografen auf. Kein Wunder also, dass auch die Zeichnung wieder
zu Ehren kommt, ist sie doch in ihrer Bescheidenheit und ihrem
Anspruch auf Unvollständigkeit das Anti-Hightech –
Medium schlechthin. Diese Beobachtungen treffen übrigens
sowohl auf Künstler der ersten wie der dritten Welt zu.
Humboldt in der Urwaldhütte
Seit der Ankunft der Europäer in Südamerika hielt sich
der Mythos vom sagenhaften Goldland "El Dorado", das
in den Weiten zwischen dem Osthang der Anden und den Urwäldern
an Orinoko und Amazonas vermutet wurde. An der Suche nach diesem
märchenhaften Ort, wo alle Gebäude aus purem Gold waren
und die Kinder mit Edelsteinen spielten, beteiligten sich Konquistadoren
aus aller Herren Länder.
Schon Kolumbus hatte in seinem berühmten Brief ans spanische
Königshaus (Carta a los Reyes Católicos), der die
dritte Reise des Admirals im Jahr 1498 beschreibt, den Nordosten
Südamerikas als "Tierra de Gracia" bezeichnet,
wo das irdische Paradies liegen musste. Dass El Dorado gleichzeitig
auch als Heimat der Amazonen galt, machte das Fabelland nur noch
geheimnisvoller.
Mitte des 19. Jahrhunderts schuf Eduard Ender sein in der Tradition
der deutschen Romantik stehendes Gemälde "Humboldt und
Bonpland in ihrer Urwaldhütte". Ender malte ein selbstbewusstes
Forscherpaar, das mit einem Sammelsurium von Instrumenten die
tropische Natur vermisst, ganz so, als sei diese für immer
beherrschbar und verständlich. Die Begegnung der Europäer
mit der Neuen Welt erscheint harmonisch, nichts trübt die
Idylle dieses " Erdlebenbildes" am Orinoko, so der damalige
Ausdruck für ein Landschaftsgemälde.
Seit Alexander von Humboldt vor 200 Jahren mit seinen Messinstrumenten
den Kontinent bereiste und die modernen Wissenschaften begründete,
wurden immer wieder europäische und später nordamerikanische
Modelle importiert, die letztlich zu einer unglückseligen
Dependenz auf vielen Gebieten führte. Ob Sozialismus oder
Neoliberalismus, ob Chicago Boys oder London School of Economics,
immer wieder waren es eingeführte Systeme, die nur selten
zum Erfolg führten.
Vielversprechender erscheint also eine allein ästhetisch
legitimierte Wiederentdeckung und Neuerfindung Amerikas über
die Künste, die dem Kontinent ein eigenes Gesicht geben können.
In dieser Hinsicht hat die São Paulo Biennale wie auch
ihre jüngere Schwester in Porto Alegre eine zentrale Aufgabe.
Womöglich wird die Einheit Amerikas über die Kultur
schneller und leichter zu bewerkstelligen sein als über politische
und wirtschaftliche Prozesse. Die Kunst hat das Zeug zu einem
modernen "Nheengatu", jener lingua franca aus Dialekten
des Tupi-Guarani, das in der Kolonialzeit als Verkehrssprache
diente und in ländlichen Gebieten Brasiliens noch heute als
"língua geral" fortlebt.
Vom Niemandsland der Kunst
Das Thema der 26. Biennale wurde so gewählt, dass eine Fülle
von künstlerischen Positionen sich darin wiederfinden können.
Der Begriff Niemandsland hat mehrere Dimensionen: eine physisch-geographische,
eine politisch-soziale und schließlich eine ästhetische,
die uns im Kontext der Ausstellung naturgemäß am meisten
interessiert.
Das Niemandsland der Ästhetik beginnt dort, wo die gewöhnliche
Welt aufhört. Es bezeichnet jenen Raum, in dem Wirklichkeit
und Imagination miteinander im Widerstreit liegen. Künstler
sind Grenzwächter eines Reichs, das jenseits der verwalteten
Welt liegt, und wo die Deutungshoheit von Politik und Wirtschaft
nicht mehr hinreicht. Während alle Welt sich ständig
über die Frage streitet, wem was gehört, klärt
die Kunst die Besitzverhältnisse auf ihre Weise: Im Reich
der Ästhetik gehört keinem etwas, und allen alles.
Im Rahmen der Biennale interessiert uns nun, wie die Verwüstungen
der realen Welt und der zwischenmenschlichen Beziehungen sich
in der Kunst niederschlagen. Da Kunstwerke mehr sind als bloße
Fakten, wird eine künstlerische Verdichtung von Phänomenen
der Realität immer mehrdeutiger und komplexer sein als simple
Reportage. Diese Regel gilt auch dann, wenn der Künstler
sich mit Fotografie und Video zweier Medien bedient, denen eine
hohe Realitätsnähe zugesprochen wird. Künstler
sind zwar eingebettet in Konflikte, aber sie verdoppeln nicht
die Welt, sondern schaffen Freiräume innerhalb der Wirklichkeit.
Den irdischen Rohstoff überführen sie mithilfe von Metaphern
und Symbolen in einen neuen, sinnlich erfahrbaren Zustand. Das
Kunstwerk offenbart Anderes; es ist Allegorie. Die Kunst existiert
außerhalb der Kausalität und darf nicht im eisernen
Gehäuse profaner Zwänge gefangen sein. In einer Biennale
kann es also nicht darum gehen, Gesinnungen auszustellen.
Die Vielzahl dokumentarischer Strategien, die in den letzten
Jahren auch auf internationalen Großausstellungen zu beobachten
waren, legt den Schluss nahe, dass das Vertrauen in die Macht
der Ästhetik schwindet. Angesichts des prekären Zustands
der Welt und der Dringlichkeit ihrer Probleme scheinen Künstler
und Kuratoren das Heil in wissenschaftlicher Analyse, Reportage
und diskursiver Abhandlung der Realität zu suchen, in eklatanter
Verkennung der Möglichkeiten ästhetischer Prozesse.
Künstler schaffen ein herrschaftsfreies Gebiet
und damit eine Gegenwelt zur real existierenden: ein Land der
Leere, der Stille, und des Innehaltens, in dem die Raserei, die
uns umgibt, für einen Augenblick angehalten wird. Aber auch
ein Land des Rätsels, in dem die Flut einfältiger Botschaften,
die uns aus den Brutstätten des Kitsch entgegenschlägt,
verschlüsselt werden. Indem der Künstler materielle
Grenzen durchbricht, wird er zum Schmuggler von Bildern zwischen
den Kulturen.
Die Biennale als extraterritoriales Gebiet
An Versuchen, das Niemandsland zu kolonisieren, hat es in Brasilien
nicht gefehlt. Erinnert sei an die Gründung von Brasilia
und, noch etwas früher, vor gut 50 Jahren, der Biennale von
São Paulo. Beide sind natürliche Verbündete,
da sie demselben aufgeklärten Geist entspringen und die Berufung
zum Aufbruch teilen. Sie wurden als Steinbruch neuer Bilder konzipiert
und haben dem Land den Weg in die Moderne geebnet.
Die São Paulo Biennale ist ein extraterritoriales
Gebiet, in dem die Künstler ihre utopischen Siedlungen errichten.
Sie ist ein geschütztes Reservat, wo Warenströme versiegen
und politische Strategien versagen. Die Biennale versteht sich
als letztes Differential, in dem sich jene kritische Masse und
positive Energie ansammeln, die erst die Voraussetzung zur Transformation
der Gesellschaft schaffen und die neue Formen des menschlichen
Zusammenlebens erahnen lassen. Jede Künstlergeneration ist
dazu aufgerufen, dieses Niemandsland neu zu vermessen und seine
Umrisse zu zeichnen.
Nur die Künste verfügen über einen
universellen Vorrat an Zeichen und Archetypen, deren Austausch
das kollektive Gedächtnis der Menschheit mobilisiert. Wenn
der Künstler also ein Bilderschmuggler ist, dann kann die
Biennale ein Umschlagsplatz im Reich der Ästhetik sein, wo
Neugier gepaart mit Eroberungslust als Ausweis und ein wacher
Sinn als Eintrittskarte genügen, wo zwar kostbare Güter
gehandelt, aber keine Zölle erhoben werden.
Don Quixotes Testament
"y si algo sobrare....." (und falls etwas übrigbleiben
sollte), endet lakonisch das Testament von Don Quixote, der am
Ende seines an Abenteuern so reichen Lebens nur noch wenig zu
vermachen hatte. Auch in der Ökonomie scheint nie etwas übrig
bleiben zu wollen: Schulden, salário mínimo, cesta
básica, Zinsen, Ratenzahlungen – nie reicht es. Die
modernen Gesellschaften, sowohl in der entwickelten wie in der
unterentwickelten Welt, versuchen dieses ewige Nullsummenspiel
dadurch zu gewinnen, dass sie immer neue Instrumente, Charts und
Indizes zur Messung und Steuerung der Wirtschaft entwickeln und
immer größere Heere von sog. "Analysten"
beschäftigen. Der Markt erscheint als veritabler Minotaurus,
der nicht wie in der Antike sieben Jungfrauen, sondern nunmehr
die gesamte Gesellschaft zu verschlingen droht.
Kein Wunder, dass auch in Brasilien die Ökonomie die Agenda
beherrscht und alle anderen Gesellschaftsbereiche auf die Hinterbank
verbannt werden. Auf der groben Waage der Ökonomie hat das
Geistige wenig Gewicht. Angesichts dieses "Cargo Cults"
(Diese Religion entstand im zweiten Weltkrieg, als die amerikanischen
Truppen zur Versorgung ihrer Soldaten auf den pazifischen Inseln
an Fallschirmen Nahrungsmittel abwarfen, die von der einheimischen,
melanesischen Bevölkerung als Gottesgabe empfangen wurden)
wird der Ruf nach der Kunst immer lauter, jener klassischen Form
der Antiökonomie, die das Primat der Finanzmärkte für
einen kostbaren Augenblick außer Kraft setzt und den Tanz
ums goldene Kalb beendet.
Die Kunst schafft in ihrer "Nutzlosigkeit", die freilich
nicht bedeutet, dass sie überflüssig wäre, einen
kulturellen Mehrwert, den keine noch so ausgefeilte Statistik
erfasst. Ihr Materialwert ist unbedeutend, der ideelle Wert hingegen
gewaltig. In Zeiten, wo alles einen Zweck und Nutzen haben soll,
glänzt die Kunst mit "reinem uninteressierten Wohlgefallen"
(Kant). Kunst stellt das Unverkäufliche dar – Lust
und Unlust - und ist damit die Abwesenheit von Ökonomie.
Was eine Funktion hat ist ersetzlich; unersetzlich nur, was zu
nichts taugt (T. Adorno). Die Kunst produziert mit ihrem symbolischen
Kapital somit einen ästhetischen Überschuss, welcher
das permanente wirtschaftliche Defizit kompensiert.
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© Copyright Text: Alfons Hug, Juli 2004 |
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