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In den Wüsteneien des persischen Golfs spielt Shirin
Neshats Video "Passage", in dem es um jenen Schwebezustand
zwischen Leben und Tod geht, den nur Kunst und Religion zu fassen
vermögen. Dieses Niemandsland, in dem Zeit und Raum eins
werden, erscheint zum einen als weißer Fleck auf der Landkarte,
der außerhalb der Reichweite der eroberten Welt liegt, zum
andern als spirituelles Kraftfeld, das über das Diesseits
hinausstrahlt. Die iranische Künstlerin zelebriert mit diesem
Begräbnisritual voll betörender Schönheit einen
großen Moment von Verlust, aber auch von Erlösung.
Der Begriff Niemandsland, ursprünglich der Sphäre des
Militärischen entlehnt, wo er ein umkämpftes Gebiet
zwischen zwei Fronten bezeichnet, hat mehrere Dimensionen: eine
physisch-geographische, eine politisch-soziale und schließlich
eine ästhetische, die uns im Kontext der Ausstellung naturgemäß
am meisten interessiert. Erstere meint nicht nur mythische, menschenleere
Naturräume wie Urwälder und Wüsten, sondern auch
Brachen und herrenlose Gebiete in unseren Großstädten.
Dazu gesellen sich schwer bestimmbare und umstrittene Zonen aller
Art: Kriegsschauplätze, Flüchtlingslager, Piratensender,
Steueroasen, Briefkastenfirmen, Abtreibungskliniken auf hoher
See und Schmugglerpfade in Grenzgebieten.
70% der Stadtfläche von Caracas sind illegal besiedelt,
und 80% der venezolanischen Kinder kommen außerehelich zur
Welt. Ganze Stadtteile von Rio de Janeiro sind extraterritoriale
Gebiete, die der Kontrolle der Staatsmacht entzogen sind. Gleiches
gilt kurioserweise auch für viele Gefängnisse. Die kolumbianische
Guerrilla hat staatsfreie Zonen von der Größe der Schweiz
errichtet. Die Einwohnerzahl der meisten Megastädte ist selbst
den Bürgermeistern nicht bekannt, und Stadtpläne, sofern
sie überhaupt existieren, sind binnen Jahresfrist veraltet.
Im Überlebenskampf der Metropolen bilden sich eigentümliche
Soziotope an den unwahrscheinlichsten Stellen, in verlassenen
Hochhäusern oder unter Autobahnbrücken, wo sich in São
Paulo beispielsweise Handwerker in halbnomadischer Situation angesiedelt
haben. Diese instabilen Zonen sind einerseits von Armut und Ausgrenzung,
andererseits von erstaunlicher Produktivität und Kreativität
geprägt.
Auf der politisch-sozialen Ebene bedeutet Niemandsland, dass
der sog. informelle Sektor in vielen Ländern der Dritten
Welt mehr als die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung
ausmacht, aber auch, dass sich die sog. Globalisierung aus unsichtbaren
Geldströmen und aus dem ortlosen Internet speist. Gleichzeitig
werden ganze Kontinente, wie etwa Afrika, vom Rest der Welt abgekoppelt
und ihrem Schicksal überlassen. Niemandsland sind auch die
defizitären Sozialsysteme und die undurchsichtigen politischen
Verhältnisse in weiten Teilen der Welt. Unterdessen sind
die zwischenmenschlichen Beziehungen immer ungeregelter und vager
geworden, wenn sie nicht gar einer Wüste gleichen. Selbst
die Sprache ist ins kulturelle Niemandsland abgewandert, was den
einen als Verarmung, den andern als Bereicherung gilt. Die Kakophonie
der Massenmedien führt zu Sprachlosigkeit, die visuelle Überflutung
hat Bilderarmut zur Folge.
In ein gefährliches Vakuum münden die
fehlenden Berührungspunkte zwischen unterschiedlichen Zivilisationen.
Kulturelle Differenzen, die eigentlich produktiv sein könnten,
werden so absolut gesetzt und unüberbrückbar. Kann Brasilien,
dessen multiethnische Bevölkerung nach einer jüngsten
Umfrage 143 verschiedene Hautfarben aufweist, hier als positives
Vorbild dienen?
Die Kunst als herrschaftsfreier Raum
Das Niemandsland der Ästhetik beginnt dort, wo die gewöhnliche
Welt aufhört. Es bezeichnet jenen Raum, in dem Wirklichkeit
und Imagination miteinander im Widerstreit liegen. Künstler
sind Grenzwächter eines Reichs, das jenseits der verwalteten
Welt liegt, und wo die Deutungshoheit von Politik und Wirtschaft
nicht mehr hinreicht. Kunst ist das eigentliche, klassische "Movimento
sem Terra". Während alle Welt sich ständig über
die Frage streitet, wem was gehört, klärt die Kunst
die Besitzverhältnisse auf ihre Weise: Im Reich der Ästhetik
gehört allen alles.
Im Rahmen der Biennale interessiert uns nun, ob und wie die eingangs
beschriebenen Formen von Niemandsland, d.h. die Verwüstungen
der realen Welt und der zwischenmenschlichen Beziehungen, sich
in der Kunst niederschlagen. Da Kunstwerke mehr sind als bloße
Fakten, wird eine künstlerische Verdichtung von Phänomenen
der Realität immer mehrdeutiger und komplexer sein als simple
Reportage. Diese Regel gilt auch dann, wenn der Künstler
sich mit Fotografie und Video zweier Medien bedient, denen eine
hohe Realitätsnähe zugesprochen wird. Künstler
sind zwar eingebettet in Konflikte ("embedded", um einen
Ausdruck aus der jüngsten Kriegsberichterstattung zu benutzen),
aber sie verdoppeln nicht die Welt, sondern schaffen Freiräume
innerhalb der Wirklichkeit. Den irdischen Rohstoff überführen
sie mithilfe von Metaphern und Symbolen in einen neuen, sinnlich
erfahrbaren Zustand. Das Kunstwerk offenbart Anderes; es ist Allegorie.
Die Kunst existiert außerhalb der Kausalität und darf
nicht im eisernen Gehäuse profaner Zwänge gefangen sein.
In einer Biennale kann es also nicht darum gehen, Gesinnungen
auszustellen.
Jedes gelungene Kunstwerk erzählt neben dem, was es darstellt,
noch eine zweite Geschichte, und hinter jedem Künstler steht
ein zweiter, unbekannter Autor. Dieser war es auch, der den Rockmusiker
Keith Richards beim Anhören einer Soloaufnahme des Blues-Erfinders
Robert Johnson zur berühmten Frage verleitete: "But
who is the other one?"
Die Vielzahl dokumentarischer Strategien, die in den letzten
Jahren auch auf internationalen Großausstellungen zu beobachten
waren, legt den Schluss nahe, dass das Vertrauen in die Macht
der Ästhetik schwindet. Dies scheint übrigens auch in
der Literatur der Fall zu sein, wo journalistische Werke, Biographien
oder Ratgeber die Fiktion verdrängt haben. Angesichts des
prekären Zustands der Welt und der Dringlichkeit ihrer Probleme
scheinen Künstler und Kuratoren das Heil in wissenschaftlicher
Analyse, Reportage und diskursiver Abhandlung der Realität
zu suchen, in eklatanter Verkennung der Möglichkeiten ästhetischer
Prozesse.
Die Kolonien der Kunst sind Orte der Absonderung und Inseln des
Widerstands in einem Meer aus Gleichförmigkeit. Die Kunst
enthüllt dabei jene inneren Schichten der Welt, die oberflächlichen
Betrachtungsweisen, seien sie politischer oder soziologischer
Natur, verborgen bleiben müssen. Vieles spricht sogar dafür,
dass die Kunst die Philosophie als große Weltdeuterin abgelöst
hat.
Künstler schaffen ein herrschaftsfreies Gebiet und damit
eine Gegenwelt zur real existierenden: ein Land der Leere, der
Stille, und des Innehaltens, in dem die Raserei, die uns umgibt,
für einen Augenblick angehalten wird. Aber auch ein Land
des Rätsels, in dem die Flut einfältiger Botschaften,
die uns aus den Brutstätten des Kitsch entgegenschlägt,
verschlüsselt werden. Indem der Künstler materielle
Grenzen durchbricht, wird er zum Schmuggler von Bildern zwischen
den Kulturen.
Die Kunst kennt keine Hierarchie. Die Frage, was alt oder neu,
peripher oder zentral, modern oder primitiv ist, stellt sich hier
völlig anders als in der Ökonomie. Die Kunst entzieht
sich dem Kalkül und der Hysterie der modernen Gesellschaft.
Während die Industrie die Welt immer weiter möbliert,
besteht die vornehmste Aufgabe der Gegenwartskunst darin, sie
zu reinigen.
Eine privilegierte Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Abstraktion.
Sie entzieht sich der Geschwätzigkeit der modernen Welt und
schafft einen sublimen Kontrapunkt dazu. Solche Ruhepunkte der
Kunst, die erst die Überschreitung des Alltäglichen
ermöglichen, sind das eigentliche Korrektiv zum alles verschlingenden
Mahlstrom des urbanen Dramas. Das Niemandsland der Abstraktion
befreit die Welt von allem Ballast und ermöglicht einen geläuterten
Neubeginn. Im Reich der Abstraktion, sagte Kandinsky, ist jede
Form gleichberechtiger Bürger.
Wahrscheinlich macht uns die Kunst nicht zu besseren
Menschen, schreibt Harold Bloom in einem Aufsatz über Shakespeare,
sie hilft uns aber, uns selbst und unsere Einsamkeit leichter
zu ertragen. Sie gebiert den Wunsch, ein anderer zu sein, und
auf einem Zeitstrahl an unerreichbare Orte zu reisen, wo uns eine
bessere Welt erwartet.
Krieg der Bilder
Die Deutung der Welt und besonders ihre Umsetzung in Bilder ruft
neben der Kunst noch andere, konkurrierende Medien auf den Plan,
in erster Linie die Bildmaschinen der Massenmedien und des Design.
Eine nicht enden wollende Flut kommerzieller Klischee-Bilder ergießt
sich über die Welt, ohne dass diese dadurch begreifbarer
würde. Massenmedien und Design erzeugen Vorstellungen und
Konzepte, welche die realen Verhältnisse und deren Werte
nicht befragen, sondern bestätigen und fortschreiben. Sie
erzeugen flache Bilder, während die Kunst tiefe, schwere,
komplexe schafft.
Das Design und sein engster Verbündeter, die Architektur,
tun so, als könne jemals etwas fertig und vollendet sein.
Die Kunst geht dagegen davon aus, dass nichts jemals fertig ist.
Design verhält sich affirmativ zur Gesellschaft, Kunst subversiv.
Design behauptet, Kunst fragt. Design fuchtelt aufgeregt mit seinem
modischen Anspruch herum, Kunst genügt sich selbst und erlaubt
sich Differenzen zum idealisierten Bild vom Leben, das uns etwa
die Werbung bietet. Wenn diese ein überzeugendes fotographisches
Abbild der Gegenwart will, dann erzeugt die Kunst ein Bild der
Zukunft. Im Grunde handelt es sich um das exakte Gegenteil, auch
wenn Designer, Kreativdirektoren und Architekten noch so sehr
auf ihren Künstlerstatus pochen. Kunst ist die Abwesenheit
von Design.
Hans Belting schreibt dazu: "Die klassisch moderne Malerei
hat manchmal ihre strahlende Autonomie erst durch die Austreibung
der Bilder erzwungen, um ihren Tempel zu reinigen. Sie überließ
die Bilder, die von der Welt infiziert waren, lieber anderen Medien.
Die Malerei, als Repräsentantin der Kunst, und die Bilder,
als Protokolle der Welt, erklärten sich gegenseitig den Krieg".
[1]
In der kommerziellen visuellen Kultur bezeichnet
das schöne deutsche Wort Kitsch gewöhnlich geschmackliche
und stilistische Verirrungen. Es scheint nunmehr angebracht, in
die Kunstdebatte den neuen Begriff des „Soziokitsch"
oder „Politkitsch" einzuführen. Damit ist jene
Kunst gemeint, die nicht mit Metaphern arbeitet, sondern mit dem
Holzhammer zuschlägt. Nicht Bilder werden ausgestellt, sondern
politisch korrekte Attitüde, als ob es in einer Ausstellung
wichtigeres gäbe als Kunst. Diese soll auf einen Schlag den
Kapitalismus und Neokolonialismus beseitigen und die Armut besiegen.
Aus den Künstlern soll eine schnelle Eingreiftruppe im heraufziehenden
"Clash of Civilizations" werden. Ein solches Unterfangen
muss schon deshalb scheitern, weil hier eine eindimensionale politische
Wahrheit behauptet wird, die Kunst in ihrer Ambivalenz nie für
sich in Anspruch nehmen würde. Oder muß man nun Monet,
einen der Pioniere der Moderne, nachträglich der Frivolität
bezichtigen, weil er vor, während und nach dem 1. Weltkrieg
unverdrossen Seerosen gemalt hat?
Ein Schuss mitten im Konzert
Man muss nicht so weit gehen wie Stendhal, der meinte, Politik,
die ins Reich der Imagination eindringe, sei wie ein Revolverschuss
mitten im Konzert. Aber mit einer unmittelbaren Bewältigung
von Realität ist die Kunst gleichzeitig über- und unterfordert.
Überfordert, weil sie keinen Krieg verhindern kann –
allenfalls jenen stillen, der in unserer eigenen Brust tobt -,
und unterfordert, weil sie viel mehr kann als das, nämlich
eine humane Gegenwelt zu einer unmenschlichen Gegenwart errichten.
Jede ästhetische Erfahrung und die daraus resultierende Katharse
ist zwar etwas eminent Subjektives; im Einzelfall ist die Transformation
des Individuums aber fast empirisch zu messen. Kunst ist letztlich
radikaler als Politik, denn sie reicht bis in jene seelischen
Schichten des Einzelnen hinein, wo die wirkliche Wandlung der
menschlichen Gesellschaft sich vollzieht.
Kunst steht über den Tagesereignissen und hat gerade deshalb
etwas Grundsätzliches zu ihnen zu sagen. Eine Welt, die höllenähnlich
geworden ist, und in der der Weltschmerz sich tief eingenistet
hat, kann von der Kunst nicht als Hölle dargestellt werden,
denn dann verlöre sie die wesentliche Funktion des Standhaltens,
des Gegenmodells. Die ungelösten Antagonismen der Welt erscheinen
im gelungenen Kunstwerk in einer Distanz zur Wirklichkeit. Der
Künstler schafft etwas Anderes, was mit der Gesellschaft
nicht identisch ist, und diese doch meint. In dieser "Verrückung
des Gewöhnlichen" (Heidegger) werden die gewohnten Bezüge
zur Welt und zur Erde so verwandelt, dass sich im Werk eine neue
Wahrheit auftut. Schon Goethe stellte fest: "Man weicht der
Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft
sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst." [2]
Die ideologische Patrouille der letzten Jahre hat dazu geführt,
dass die Kunst mit Tagespolitik überfachtet worden ist. Künstler
und Publikum sollen sich aufgerufen fühlen, den Ernst der
Verhältnisse und die Verwicklungen der Wirklichkeit ad hoc
zu mildern. Bewährte visuelle und plastische Strategien werden
zugunsten hochtrabender soziologischer Diskurse unterdrückt.
Die Kunst wird dadurch im besten Fall redundant, im schlimmsten
Fall aber zum Politkitsch degradiert. Einerseits findet in ihr
eine Wiederholung von andernorts schon gesehenen Szenen statt,
etwa in Reportagen und Dokumentationen, andererseits predigt man
vor einem bereits konvertierten Publikum, das ohnehin schon von
der gerechten Sache überzeugt ist und sich einem kleinen
Kreis von Aufgeklärten zurechnen darf. Die noch nicht Eingeweihten
wenden sich aber enttäuscht ab, da sie vergeblich nach einem
Rätsel suchen, das andere, banalere Bildträger nicht
liefern können, das aber von der Kunst von jeher zurecht
erwartet wird.
Im Grunde geht es heute immer noch um zwei miteinader
rivalisierende Vorstellungen von Kunst, die sich durchs ganze
20. Jahrhundert zogen und von Benjamin und Adorno am prominentesten
vertreten wurden. Während ersterer eine werkfeindliche Avantgarde
vertrat, die das Ziel hatte, die Potentiale einer engagierten
Kunst für eine Revolutionierung des Alltags zu nutzen, bestand
Adorno auf der Autonomie des Kunstwerks und auf seiner Rätselhaftigkeit.
Eine Funktionalisierung der Kunst lehnte er ab, da diese damit
ihre Transzendenz aufgebe und "unter ihren Begriff herabsinke",
ja "entkunstet" werde. In der idealistischen Ästhetik
Adornos begegnet der Betrachter dem Kunstwerk mit einer kontemplativen
Einstellung, um in eine andere Welt übertreten zu können.
Nach dem Geltungsverlust der Religionen überleben in der
modernen Kunst metaphysische Bedürfnisse.
Das Paradies gleich um die Ecke
Durch ihren Rätselcharakter zwingen die Kunstwerke zu stets
neuer Interpretation und Reflexion, letztlich auch mit dem Ziel,
der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Dadurch, dass sich das Kunstwerk
nicht eindeutig klassifizieren lässt, ist es der verwalteten
Welt, die alles dirigieren möchte, ein Dorn im Auge. Hier
liegt im Grund die politische Funktion von Kunst. Mehr noch, indem
die Kunst eine Fülle komplexer Weltsichten und – deutungen
anbietet, oft genug auch widersprüchliche, verleitet sie
den Betrachter zur Stellungnahme, zum Urteil, zum Eigensinn und
zur Kritikfähigkeit. "Es gibt keinen andern Weg, den
sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als dass man denselben
zuvor ästhetisch macht", schrieb Friedrich Schiller
schon im Jahr 1795. [3]
Jede ästhetische Erfahrung ist ein zutiefst subjektiver
Vorgang, der das Individuum stärkt, was wiederum eine zentrale
Voraussetzung demokratischer und moderner Gesellschaften ist.
Der soziale Auftrag ist der Kunst immanent, er braucht ihr nicht
verordnet zu werden. Die Kunst legt sich nicht in Betten, die
für sie vorbereitet wurden, sagte Jean Dubuffet. Und wo es
nichts Gutes zu vollbringen gibt, wird sie die Stelle des Bösen
wenigstens immer besser einnehmen als das Böse selbst, würde
Hegel hinzufügen.
Die Tatsache, dass die Bildende Kunst unter allen Künsten
den radikalsten Materialbegriff besitzt, verleiht ihr eine außergewöhnliche
Brisanz im Umgang mit der Welt und ihrer Neuerfindung. Als nichtverbales
Medium ist sie zudem für den interkulturellen Austausch besonders
geeignet. Da die Theorie der Moderne im Umfeld der Bildenden Kunst
besonders früh und profunde entwickelt wurde, bildet diese
bis heute einen wichtigen Referenzpunkt auch für die anderen
Künste.
Die Kunst ist auch deshalb emanzipatorisch und ein Angriff auf
die Realität, weil sie die Sehnsucht nach einem herrschaftsfreien
Zustand erweckt, ohne diesen freilich namentlich benennen oder
als Bild darstellen zu wollen. Sie ist das „Paradies gleich
um die Ecke"(O paraíso na Outra Esquina), um den Titel
des letzten Romans von Mario Vargas Llosa zu zitieren, der auf
Paul Gauguins Spuren in der Südsee wandelte. Der Maler suchte
bekanntlich seine Inspiration in Tahiti, weil die Kunst in Europa,
gegängelt und manipuliert von einem Klüngel aus Kritikern
und Galeristen, ihre Vitalität verloren hatte.
Dieser utopischen Idee ist es zu verdanken, dass,
wie Boris Groys formulierte, jede kurze Visite im schlechtesten
Museum der Welt tausendmal interessanter ist als alles, was man
während seines langen Lebens in der sogenannten Wirklichkeit
zu sehen bekommt. Auch Goethes Faust hatte das Erlebnis des Unendlichen
bekanntlich in der Bibliothek, um es dann später im wirklichen
Leben zu verlieren.
O diabo não é tão feio como se pinta
(Der Teufel ist nicht so hässlich, wie man ihn malt, brasilianisches
Sprichwort)
In seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft versucht
sich Immanuel Kant an einer Rangordnung der Künste. Der erste
Platz gebühre der Dichtkunst, die fast gänzlich dem
Genie ihren Ursprung verdanke und am wenigsten durch Vorschriften
geleitet sei. Die Tonkunst setzte er an die zweite Stelle aufgrund
der ihr eigenen „Bewegung des Gemüts". Die bildende
Kunst folgte danach, wobei innerhalb dieser die Malerei am höchsten
zu bewerten sei, da sie mehr als andere Künste in die Region
der Ideen eindringe und auch das Feld der Anschauung erweitere.
Kants langer Arm scheint auch den Malern von heute wertvollen
Beistand zu leisten. Denn nach Jahrzehnten der Verbannung kehren
sie nun auf den Olymp der bildenden Kunst zurück. „Quem
determina o fim da pintura é Cezanne e não M. Duchamp"
kritzelte Artur Barrio, lakonisch wie immer, in einer seiner letzten
Installationen an die Wand.
Die Malerei war in den 70er Jahren ein Opfer oberflächlicher
Politisierung geworden, welche die Leinwand mit der Dominanz männlicher
Genies von Michelangelo bis Picasso in Verbindung brachte und
in neuen Medien wie dem Video adäquatere, neutrale Bildträger
fand, die zudem den vermeintlichen Vorteil hatten, soziale und
politische Botschaften leichter transportieren zu können.
Ist mit der Malerei also apolitisches Verhalten in die Kunst zurückgekehrt?
"Wir sind noch nicht recht gewöhnt an
eine Malerei, die wieder ungeniert Malerei ist, ohne sich noch
jenem Programm zu unterwerfen, das wir meist etwas gedankenlos
KUNST nennen. Die "Kunst der Malerei" war schon längst
da, als KUNST, in ihrer abstrakten Würde, noch lange auf
sich warten ließ, und deswegen kommt sie heute wieder, nachdem
KUNST etwas von ihrem Monopol verliert. In der Kunst darf es keine
Lügen geben, nur Wahrheit, wo sie doch selber eine große
Fiktion ist, zumindest eine ungewisse Idee. Von Lüge zu reden,
wäre in der Kunst ein harter Vorwurf, in der Malerei aber
eine feine Beschreibung, denn sie verfügt über schöne
und alte Lügen, wenn man ihre erprobten Regiespiele der Wahrnehmung
so nennen darf, auf die wir wie ein neugieriges Theaterpublikum
warten. Wir nehmen auch sonst die Welt wahr, nicht nur in der
Malerei. Aber in der Malerei sind wir als Person im Gespräch
mit einer anderen Person, die hinter der Wahrnehmung Regie führt.
Dieser stumme Dialog macht Malerei lustvoll und rätselvoll.
Die Malerei macht uns Wahrheiten leichter, indem sie sie in "durchsichtige"
Lügen kleidet. Sie benutzt Lügen, mit denen man Wahrheiten
sagen kann". [4]
Lauter unbekannte Meisterwerke
In seinem Atelier in der Rua Cândido Lacerda 311 von Recife
hat Paulo Bruscky eine beeindruckende Geschichte von Kunst und
Welt der letzten 40 Jahre zusammengetragen: Klassiker der Belletristik,
wissenschaftliche Schriften, Abhandlungen zur Ästhetik, Traktate.
Stapel von Zeitungsausschnitten türmen sich auf dem Boden.
Dazu Briefe von Kollegen der Fluxus-Bewegung, Objekte und kleine
Skulpturen. Fein säuberlich numerierte Aktenordner mit den
Initialen der wichtigsten Kunstländer enthalten Brusckys
Korrespondenz mit der Kunstwelt, fast dem Archiv der Biennale
von Sao Paulo vergleichbar. Recife als Nabel der Welt, und der
Künstler ein Wissenschaftler wie in Johannes Vermeers "Geograph"
von 1669. Eine Bibliothek als Bollwerk gegen die Welt? Oder ist
Brusckys Sammelwut vielleicht auch ein stummer Aufruf an die jungen
Künstler, zu studieren, zu recherchieren, Theorien auszuloten,
kurzum sich zu bilden?
In einer Ecke des unaufgeräumten Studios liegen unbeachtet
eine verstaubte Staffelei, sowie mehrere Paletten mit eingetrockneten
Farbklecksen. Die Werkzeuge des Malers wirken merkwürdig
deplaziert vor der Übermacht von Büchern, Objekten und
Konzepten. Ein Sinnbild für die in den letzten Jahren immer
wieder beschworene Krise der Malerei. Was können uns gemalte
Bilder noch sagen angesichts der Komplexität der Welt und
der Fülle neuer Medien, darunter auch Brusckys Fax- und Mail-Art?
In Brusckys Fundgrube sind unter einem Wust von Papier all jene
imaginären Bilder begraben, die in der letzten Generation
nicht gemalt wurden: Lauter unbekannte Meisterwerke, um mit Balzac
zu sprechen. Brusckys Atelier verkörpert zwei konkurrierende
Modelle der Weltanschauung. Das eine sammelt, bewahrt, sichtet
Dokumente und geht dabei fast wissenschaftlich vor. Das andere
– jenes mit dem Pinsel gemalte - löst sich vom Schwall
der Informationen und schafft eine neue, parallele, ja gelegentlich
auch konträre Welt. Während erstere Methode einen allumfassenden
Anspruch auf Interpretation von Welt hat und dabei Gefahr läuft,
dogmatisch zu werden, genügt es letzterer, einen flüchtigen
Augenblick im Gespinst der menschlichen Begegnungen festzuhalten
und den Schatten aufzuhellen, der sich über die Welt gelegt
hat.
Wenn Malerei auf die Vielfalt möglicher Verstehensweisen
abzielt, bemüht sich Wissenschaft um deren Reduktion. Kunstwerke
mögen offen und mehrdeutig sein, eine wissenschaftliche Studie
ist es nicht. Darum wird gute Kunst auch weiter schlechte Wissenschaft
bleiben - und umgekehrt.
Die Biennale wird Brusckys Atelier, das neben seinem
konzeptuellen Wert auch einen plastischen Reiz und eine gewisse
melancholische Poesie besitzt, in Sao Paulo detailgetreu aufbauen.
Sie räumt aber auch sein Sammelsurium der Nostalgie für
einen Moment zur Seite und lüftet all jene imaginären
Bilder, die weder er noch seine Künstlerkollegen in den letzten
Jahren malen konnten, ja malen durften. Mehr denn je geht es in
der Kunst von heute wieder um die Macht des Bilderschaffens und
weniger um die Fähigkeit, Daten zu sammeln. Diese Aufgabe
kann man getrost den Wissenschaftlern überlassen, jenen Chronisten
der Unzulänglichkeit der realen Welt. Das Geheimnis der Malerei
liegt darin, dass ein winziger Pinselstrich den Schleier des Alltäglichen
zerreisst und eine neue Welt zum Vorschein bringt, vor deren Rätsel
die Statistiken der Mathematiker versagen. "Die winzige Kluft,
die zwischen dem Bild selbst und dem, was es bedeutet, besteht,
ist die Quelle meiner Malerei" (Luc Tuymans), [5]. Bei jedem
Gemälde geht es also auch um jenes Stückchen Niemandsland,
das dort liegt, wo die Welt aufhört und die Leinwand beginnt.
Dammi i Colori
Im ersten Akt von Puccinis Oper "Tosca" malt der Protagonist
Mario Cavaradossi das Porträt einer blonden Adeligen. Plötzlich
hält er inne, zieht aus seiner Westentasche ein Medaillon
mit dem Bild seiner Geliebten Tosca und lässt seinen Blick
mehrfach von der Miniatur zum Gemälde schweifen, das auf
geheimnisvolle Weise die Schönheit beider Frauen vereint.
Die Koexistenz der Rivalinnen, die im wirklichen Leben zu Konflikten
führen würde, ist auf friedlichem Weg nur über
die Kunst zu bewerkstelligen, die oft genug Unversöhnliches
zusammenführt und Abwesendes anwesend sein lässt.
Erst Toscas Eifersucht veranlasst Cavaradossi, die blauen Augen
der Konkurrentin schwarz zu übermalen, damit das ambivalente
Porträt ihrem, Toscas, Ebenbild ähnlicher werde. Die
"zarte Harmonie" des Bildes, so auch der Titel von Cavaradossis
berühmter Arie, ist gestört. Es liegt in der Macht des
Malers, durch winzige Eingriffe Gleichmaß herzustellen und
zu zerstören, Schönheit herbeizuzaubern oder zu vernichten.
Man sage nun nicht, Schönheit sei längst in die Salons
der Mode abgewandert und kein Kriterium mehr in der modernen Kunst.
Einer der Meister der Gegenwartsmalerei, Gerhard Richter, besteht
darauf, schöne Bilder zu malen, auch wenn er mit dieser "altmodischen"
Haltung so manchen Kritiker enttäuscht, der lieber mehr Gewaltszenen
sehen würde. Richter weist auch gerne darauf hin, dass bei
ihm zu Beginn des Malens ein mentales Bild stehe, das er in der
Ausführung seiner Arbeit freilich nur selten erreiche. Auf
dem Weg zu diesem "Vorbild" beseitigt er dann systematisch
naheliegende, banale Details und Klischees.
In dieser Auslöschung unnötiger Dinge besteht also
die Abstraktion der Malerei, was wohlgemerkt sowohl für figurative
wie abstrakte Bilder gilt. Damit ist auch der Unterschied zur
Fotografie beschrieben, die paradoxerweise im Vergleich zur Malerei,
die reine Bilder schafft, unreine produziert, weil sich in einer
Fotografie stets kleine Fehler technischer Art oder nicht gewollte
Unregelmäßigkeiten, die auf Zufälligkeiten beruhen,
einschleichen. Die Reinheit eines Gemäldes besteht also gerade
im Verlust von Details und im Verzicht auf Überladung. Luc
Tuymans erzählt dazu gerne folgende Anekdote: Als Constant
Permeke im Jahr 1940 bei einer Ausstellungseröffnung in Brüssel
von einer Dame kritisiert wurde, seine Gemälde seien "etwas
leer", nahm er ihren Lippenstift und zeichnete in eines seiner
Bilder ein paar Fallschirmjäger, die vom Himmel stürzten.
Voilà , 2 Tage später befand sich sein Land im Kriegszustand.
Warum erlebt die Malerei, die auch auf der Biennale prominent
vertreten ist, heute wieder einmal eine Wiedergeburt? Warum hat
sie im ewigen Disput des "paragone", jener in der Renaissance
gepflegten Rangordnung der Künste, wieder Gewicht bekommen?
Gewiss ist ihre besondere Aura gefragt, die Nahes entrückt
erscheinen lässt, und Fernes herbeiholt. Sicherlich spielt
die kritische Auseinandersetzung mit Zeitgeist und Lifestyle eine
Rolle, wie ihn Massenmedien und Werbung propagieren, und sicherlich
geht es auch um Singularität und handwerkliche Authentizität
angesichts einer Lawine technisch reproduzierter Medien. Die statischen
Bilder der Malerei wirken wie ein Anker in der Flut mobiler, manipulierbarer
Bilder, denen niemand mehr traut. Die stillen Bilder, die zu ungestörter
Betrachtung einladen, stemmen sich gegen den Lärm und die
Reizüberflutung der kommerziellen Welt. Auch sträubt
sich Malerei aufgrund ihres ausgeprägten Eigensinns und ihrer
höchst subjektiven Verortung gegen kuratoriale Funktionalisierung.
Der Hauptgrund dürfte aber sein, dass sich die Malerei nicht
mimetisch gegenüber der Realität verhält, sondern
die Gesetze der Wirklichkeit aufhebt und die Dinge der Welt in
prototypischer Gestalt und symbolischer Überhöhung erscheinen
lässt. Der Maler jagt weiterhin einem Idealbild von Mensch
und Welt nach, das uns allen seit Urzeiten vorschwebt.
Anmerkungen:
1. Hans Belting, Über Lügen und andere
Wahrheiten der Malerei , Katalog zu Sigmar Polke, S. 131, Bonn
1997.
2. J.W. Goethe, Schriften zur Kunst, 1822.
In Goethes Werke, Band XII, S. 469. Hamburg 1953
3. Friedrich Schiller, Über die ästhetische
Erziehung des Menschen (1795). In Schillers Werke, Band 4. Frankfurt
1966
4. Hans Belting, Über Lügen und andere
Wahrheiten der Malerei, Katalog zu Sigmar Polke, S. 129, Bonn
1997.
5. Jan Thorn-Prikker, Luc Tuymans: Renaissance
der Malerei, Kulturchronik Nr 3, Bonn 2003
>> Druckversion
© Copyright Text: Alfons Hug, Juli 2004 |
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