Universes in Universe - Welten der Kunst

26. Biennale São Paulo
25. September - 19. Dezember 2004

São Paulo / 2004

Bilderschmuggler im Niemandsland der Kunst
Von Alfons Hug, Chef-Kurator

In den Wüsteneien des persischen Golfs spielt Shirin Neshats Video "Passage", in dem es um jenen Schwebezustand zwischen Leben und Tod geht, den nur Kunst und Religion zu fassen vermögen. Dieses Niemandsland, in dem Zeit und Raum eins werden, erscheint zum einen als weißer Fleck auf der Landkarte, der außerhalb der Reichweite der eroberten Welt liegt, zum andern als spirituelles Kraftfeld, das über das Diesseits hinausstrahlt. Die iranische Künstlerin zelebriert mit diesem Begräbnisritual voll betörender Schönheit einen großen Moment von Verlust, aber auch von Erlösung.

Der Begriff Niemandsland, ursprünglich der Sphäre des Militärischen entlehnt, wo er ein umkämpftes Gebiet zwischen zwei Fronten bezeichnet, hat mehrere Dimensionen: eine physisch-geographische, eine politisch-soziale und schließlich eine ästhetische, die uns im Kontext der Ausstellung naturgemäß am meisten interessiert. Erstere meint nicht nur mythische, menschenleere Naturräume wie Urwälder und Wüsten, sondern auch Brachen und herrenlose Gebiete in unseren Großstädten. Dazu gesellen sich schwer bestimmbare und umstrittene Zonen aller Art: Kriegsschauplätze, Flüchtlingslager, Piratensender, Steueroasen, Briefkastenfirmen, Abtreibungskliniken auf hoher See und Schmugglerpfade in Grenzgebieten.

70% der Stadtfläche von Caracas sind illegal besiedelt, und 80% der venezolanischen Kinder kommen außerehelich zur Welt. Ganze Stadtteile von Rio de Janeiro sind extraterritoriale Gebiete, die der Kontrolle der Staatsmacht entzogen sind. Gleiches gilt kurioserweise auch für viele Gefängnisse. Die kolumbianische Guerrilla hat staatsfreie Zonen von der Größe der Schweiz errichtet. Die Einwohnerzahl der meisten Megastädte ist selbst den Bürgermeistern nicht bekannt, und Stadtpläne, sofern sie überhaupt existieren, sind binnen Jahresfrist veraltet.

Im Überlebenskampf der Metropolen bilden sich eigentümliche Soziotope an den unwahrscheinlichsten Stellen, in verlassenen Hochhäusern oder unter Autobahnbrücken, wo sich in São Paulo beispielsweise Handwerker in halbnomadischer Situation angesiedelt haben. Diese instabilen Zonen sind einerseits von Armut und Ausgrenzung, andererseits von erstaunlicher Produktivität und Kreativität geprägt.

Auf der politisch-sozialen Ebene bedeutet Niemandsland, dass der sog. informelle Sektor in vielen Ländern der Dritten Welt mehr als die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung ausmacht, aber auch, dass sich die sog. Globalisierung aus unsichtbaren Geldströmen und aus dem ortlosen Internet speist. Gleichzeitig werden ganze Kontinente, wie etwa Afrika, vom Rest der Welt abgekoppelt und ihrem Schicksal überlassen. Niemandsland sind auch die defizitären Sozialsysteme und die undurchsichtigen politischen Verhältnisse in weiten Teilen der Welt. Unterdessen sind die zwischenmenschlichen Beziehungen immer ungeregelter und vager geworden, wenn sie nicht gar einer Wüste gleichen. Selbst die Sprache ist ins kulturelle Niemandsland abgewandert, was den einen als Verarmung, den andern als Bereicherung gilt. Die Kakophonie der Massenmedien führt zu Sprachlosigkeit, die visuelle Überflutung hat Bilderarmut zur Folge.

In ein gefährliches Vakuum münden die fehlenden Berührungspunkte zwischen unterschiedlichen Zivilisationen. Kulturelle Differenzen, die eigentlich produktiv sein könnten, werden so absolut gesetzt und unüberbrückbar. Kann Brasilien, dessen multiethnische Bevölkerung nach einer jüngsten Umfrage 143 verschiedene Hautfarben aufweist, hier als positives Vorbild dienen?

Die Kunst als herrschaftsfreier Raum

Das Niemandsland der Ästhetik beginnt dort, wo die gewöhnliche Welt aufhört. Es bezeichnet jenen Raum, in dem Wirklichkeit und Imagination miteinander im Widerstreit liegen. Künstler sind Grenzwächter eines Reichs, das jenseits der verwalteten Welt liegt, und wo die Deutungshoheit von Politik und Wirtschaft nicht mehr hinreicht. Kunst ist das eigentliche, klassische "Movimento sem Terra". Während alle Welt sich ständig über die Frage streitet, wem was gehört, klärt die Kunst die Besitzverhältnisse auf ihre Weise: Im Reich der Ästhetik gehört allen alles.

Im Rahmen der Biennale interessiert uns nun, ob und wie die eingangs beschriebenen Formen von Niemandsland, d.h. die Verwüstungen der realen Welt und der zwischenmenschlichen Beziehungen, sich in der Kunst niederschlagen. Da Kunstwerke mehr sind als bloße Fakten, wird eine künstlerische Verdichtung von Phänomenen der Realität immer mehrdeutiger und komplexer sein als simple Reportage. Diese Regel gilt auch dann, wenn der Künstler sich mit Fotografie und Video zweier Medien bedient, denen eine hohe Realitätsnähe zugesprochen wird. Künstler sind zwar eingebettet in Konflikte ("embedded", um einen Ausdruck aus der jüngsten Kriegsberichterstattung zu benutzen), aber sie verdoppeln nicht die Welt, sondern schaffen Freiräume innerhalb der Wirklichkeit. Den irdischen Rohstoff überführen sie mithilfe von Metaphern und Symbolen in einen neuen, sinnlich erfahrbaren Zustand. Das Kunstwerk offenbart Anderes; es ist Allegorie. Die Kunst existiert außerhalb der Kausalität und darf nicht im eisernen Gehäuse profaner Zwänge gefangen sein. In einer Biennale kann es also nicht darum gehen, Gesinnungen auszustellen.

Jedes gelungene Kunstwerk erzählt neben dem, was es darstellt, noch eine zweite Geschichte, und hinter jedem Künstler steht ein zweiter, unbekannter Autor. Dieser war es auch, der den Rockmusiker Keith Richards beim Anhören einer Soloaufnahme des Blues-Erfinders Robert Johnson zur berühmten Frage verleitete: "But who is the other one?"

Die Vielzahl dokumentarischer Strategien, die in den letzten Jahren auch auf internationalen Großausstellungen zu beobachten waren, legt den Schluss nahe, dass das Vertrauen in die Macht der Ästhetik schwindet. Dies scheint übrigens auch in der Literatur der Fall zu sein, wo journalistische Werke, Biographien oder Ratgeber die Fiktion verdrängt haben. Angesichts des prekären Zustands der Welt und der Dringlichkeit ihrer Probleme scheinen Künstler und Kuratoren das Heil in wissenschaftlicher Analyse, Reportage und diskursiver Abhandlung der Realität zu suchen, in eklatanter Verkennung der Möglichkeiten ästhetischer Prozesse.

Die Kolonien der Kunst sind Orte der Absonderung und Inseln des Widerstands in einem Meer aus Gleichförmigkeit. Die Kunst enthüllt dabei jene inneren Schichten der Welt, die oberflächlichen Betrachtungsweisen, seien sie politischer oder soziologischer Natur, verborgen bleiben müssen. Vieles spricht sogar dafür, dass die Kunst die Philosophie als große Weltdeuterin abgelöst hat.

Künstler schaffen ein herrschaftsfreies Gebiet und damit eine Gegenwelt zur real existierenden: ein Land der Leere, der Stille, und des Innehaltens, in dem die Raserei, die uns umgibt, für einen Augenblick angehalten wird. Aber auch ein Land des Rätsels, in dem die Flut einfältiger Botschaften, die uns aus den Brutstätten des Kitsch entgegenschlägt, verschlüsselt werden. Indem der Künstler materielle Grenzen durchbricht, wird er zum Schmuggler von Bildern zwischen den Kulturen.

Die Kunst kennt keine Hierarchie. Die Frage, was alt oder neu, peripher oder zentral, modern oder primitiv ist, stellt sich hier völlig anders als in der Ökonomie. Die Kunst entzieht sich dem Kalkül und der Hysterie der modernen Gesellschaft. Während die Industrie die Welt immer weiter möbliert, besteht die vornehmste Aufgabe der Gegenwartskunst darin, sie zu reinigen.

Eine privilegierte Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Abstraktion. Sie entzieht sich der Geschwätzigkeit der modernen Welt und schafft einen sublimen Kontrapunkt dazu. Solche Ruhepunkte der Kunst, die erst die Überschreitung des Alltäglichen ermöglichen, sind das eigentliche Korrektiv zum alles verschlingenden Mahlstrom des urbanen Dramas. Das Niemandsland der Abstraktion befreit die Welt von allem Ballast und ermöglicht einen geläuterten Neubeginn. Im Reich der Abstraktion, sagte Kandinsky, ist jede Form gleichberechtiger Bürger.

Wahrscheinlich macht uns die Kunst nicht zu besseren Menschen, schreibt Harold Bloom in einem Aufsatz über Shakespeare, sie hilft uns aber, uns selbst und unsere Einsamkeit leichter zu ertragen. Sie gebiert den Wunsch, ein anderer zu sein, und auf einem Zeitstrahl an unerreichbare Orte zu reisen, wo uns eine bessere Welt erwartet.

Krieg der Bilder

Die Deutung der Welt und besonders ihre Umsetzung in Bilder ruft neben der Kunst noch andere, konkurrierende Medien auf den Plan, in erster Linie die Bildmaschinen der Massenmedien und des Design. Eine nicht enden wollende Flut kommerzieller Klischee-Bilder ergießt sich über die Welt, ohne dass diese dadurch begreifbarer würde. Massenmedien und Design erzeugen Vorstellungen und Konzepte, welche die realen Verhältnisse und deren Werte nicht befragen, sondern bestätigen und fortschreiben. Sie erzeugen flache Bilder, während die Kunst tiefe, schwere, komplexe schafft.

Das Design und sein engster Verbündeter, die Architektur, tun so, als könne jemals etwas fertig und vollendet sein. Die Kunst geht dagegen davon aus, dass nichts jemals fertig ist. Design verhält sich affirmativ zur Gesellschaft, Kunst subversiv. Design behauptet, Kunst fragt. Design fuchtelt aufgeregt mit seinem modischen Anspruch herum, Kunst genügt sich selbst und erlaubt sich Differenzen zum idealisierten Bild vom Leben, das uns etwa die Werbung bietet. Wenn diese ein überzeugendes fotographisches Abbild der Gegenwart will, dann erzeugt die Kunst ein Bild der Zukunft. Im Grunde handelt es sich um das exakte Gegenteil, auch wenn Designer, Kreativdirektoren und Architekten noch so sehr auf ihren Künstlerstatus pochen. Kunst ist die Abwesenheit von Design.

Hans Belting schreibt dazu: "Die klassisch moderne Malerei hat manchmal ihre strahlende Autonomie erst durch die Austreibung der Bilder erzwungen, um ihren Tempel zu reinigen. Sie überließ die Bilder, die von der Welt infiziert waren, lieber anderen Medien. Die Malerei, als Repräsentantin der Kunst, und die Bilder, als Protokolle der Welt, erklärten sich gegenseitig den Krieg". [1]

In der kommerziellen visuellen Kultur bezeichnet das schöne deutsche Wort Kitsch gewöhnlich geschmackliche und stilistische Verirrungen. Es scheint nunmehr angebracht, in die Kunstdebatte den neuen Begriff des „Soziokitsch" oder „Politkitsch" einzuführen. Damit ist jene Kunst gemeint, die nicht mit Metaphern arbeitet, sondern mit dem Holzhammer zuschlägt. Nicht Bilder werden ausgestellt, sondern politisch korrekte Attitüde, als ob es in einer Ausstellung wichtigeres gäbe als Kunst. Diese soll auf einen Schlag den Kapitalismus und Neokolonialismus beseitigen und die Armut besiegen. Aus den Künstlern soll eine schnelle Eingreiftruppe im heraufziehenden "Clash of Civilizations" werden. Ein solches Unterfangen muss schon deshalb scheitern, weil hier eine eindimensionale politische Wahrheit behauptet wird, die Kunst in ihrer Ambivalenz nie für sich in Anspruch nehmen würde. Oder muß man nun Monet, einen der Pioniere der Moderne, nachträglich der Frivolität bezichtigen, weil er vor, während und nach dem 1. Weltkrieg unverdrossen Seerosen gemalt hat?

Ein Schuss mitten im Konzert

Man muss nicht so weit gehen wie Stendhal, der meinte, Politik, die ins Reich der Imagination eindringe, sei wie ein Revolverschuss mitten im Konzert. Aber mit einer unmittelbaren Bewältigung von Realität ist die Kunst gleichzeitig über- und unterfordert. Überfordert, weil sie keinen Krieg verhindern kann – allenfalls jenen stillen, der in unserer eigenen Brust tobt -, und unterfordert, weil sie viel mehr kann als das, nämlich eine humane Gegenwelt zu einer unmenschlichen Gegenwart errichten. Jede ästhetische Erfahrung und die daraus resultierende Katharse ist zwar etwas eminent Subjektives; im Einzelfall ist die Transformation des Individuums aber fast empirisch zu messen. Kunst ist letztlich radikaler als Politik, denn sie reicht bis in jene seelischen Schichten des Einzelnen hinein, wo die wirkliche Wandlung der menschlichen Gesellschaft sich vollzieht.

Kunst steht über den Tagesereignissen und hat gerade deshalb etwas Grundsätzliches zu ihnen zu sagen. Eine Welt, die höllenähnlich geworden ist, und in der der Weltschmerz sich tief eingenistet hat, kann von der Kunst nicht als Hölle dargestellt werden, denn dann verlöre sie die wesentliche Funktion des Standhaltens, des Gegenmodells. Die ungelösten Antagonismen der Welt erscheinen im gelungenen Kunstwerk in einer Distanz zur Wirklichkeit. Der Künstler schafft etwas Anderes, was mit der Gesellschaft nicht identisch ist, und diese doch meint. In dieser "Verrückung des Gewöhnlichen" (Heidegger) werden die gewohnten Bezüge zur Welt und zur Erde so verwandelt, dass sich im Werk eine neue Wahrheit auftut. Schon Goethe stellte fest: "Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst." [2]

Die ideologische Patrouille der letzten Jahre hat dazu geführt, dass die Kunst mit Tagespolitik überfachtet worden ist. Künstler und Publikum sollen sich aufgerufen fühlen, den Ernst der Verhältnisse und die Verwicklungen der Wirklichkeit ad hoc zu mildern. Bewährte visuelle und plastische Strategien werden zugunsten hochtrabender soziologischer Diskurse unterdrückt. Die Kunst wird dadurch im besten Fall redundant, im schlimmsten Fall aber zum Politkitsch degradiert. Einerseits findet in ihr eine Wiederholung von andernorts schon gesehenen Szenen statt, etwa in Reportagen und Dokumentationen, andererseits predigt man vor einem bereits konvertierten Publikum, das ohnehin schon von der gerechten Sache überzeugt ist und sich einem kleinen Kreis von Aufgeklärten zurechnen darf. Die noch nicht Eingeweihten wenden sich aber enttäuscht ab, da sie vergeblich nach einem Rätsel suchen, das andere, banalere Bildträger nicht liefern können, das aber von der Kunst von jeher zurecht erwartet wird.

Im Grunde geht es heute immer noch um zwei miteinader rivalisierende Vorstellungen von Kunst, die sich durchs ganze 20. Jahrhundert zogen und von Benjamin und Adorno am prominentesten vertreten wurden. Während ersterer eine werkfeindliche Avantgarde vertrat, die das Ziel hatte, die Potentiale einer engagierten Kunst für eine Revolutionierung des Alltags zu nutzen, bestand Adorno auf der Autonomie des Kunstwerks und auf seiner Rätselhaftigkeit. Eine Funktionalisierung der Kunst lehnte er ab, da diese damit ihre Transzendenz aufgebe und "unter ihren Begriff herabsinke", ja "entkunstet" werde. In der idealistischen Ästhetik Adornos begegnet der Betrachter dem Kunstwerk mit einer kontemplativen Einstellung, um in eine andere Welt übertreten zu können. Nach dem Geltungsverlust der Religionen überleben in der modernen Kunst metaphysische Bedürfnisse.

Das Paradies gleich um die Ecke

Durch ihren Rätselcharakter zwingen die Kunstwerke zu stets neuer Interpretation und Reflexion, letztlich auch mit dem Ziel, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Dadurch, dass sich das Kunstwerk nicht eindeutig klassifizieren lässt, ist es der verwalteten Welt, die alles dirigieren möchte, ein Dorn im Auge. Hier liegt im Grund die politische Funktion von Kunst. Mehr noch, indem die Kunst eine Fülle komplexer Weltsichten und – deutungen anbietet, oft genug auch widersprüchliche, verleitet sie den Betrachter zur Stellungnahme, zum Urteil, zum Eigensinn und zur Kritikfähigkeit. "Es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als dass man denselben zuvor ästhetisch macht", schrieb Friedrich Schiller schon im Jahr 1795. [3]

Jede ästhetische Erfahrung ist ein zutiefst subjektiver Vorgang, der das Individuum stärkt, was wiederum eine zentrale Voraussetzung demokratischer und moderner Gesellschaften ist. Der soziale Auftrag ist der Kunst immanent, er braucht ihr nicht verordnet zu werden. Die Kunst legt sich nicht in Betten, die für sie vorbereitet wurden, sagte Jean Dubuffet. Und wo es nichts Gutes zu vollbringen gibt, wird sie die Stelle des Bösen wenigstens immer besser einnehmen als das Böse selbst, würde Hegel hinzufügen.

Die Tatsache, dass die Bildende Kunst unter allen Künsten den radikalsten Materialbegriff besitzt, verleiht ihr eine außergewöhnliche Brisanz im Umgang mit der Welt und ihrer Neuerfindung. Als nichtverbales Medium ist sie zudem für den interkulturellen Austausch besonders geeignet. Da die Theorie der Moderne im Umfeld der Bildenden Kunst besonders früh und profunde entwickelt wurde, bildet diese bis heute einen wichtigen Referenzpunkt auch für die anderen Künste.

Die Kunst ist auch deshalb emanzipatorisch und ein Angriff auf die Realität, weil sie die Sehnsucht nach einem herrschaftsfreien Zustand erweckt, ohne diesen freilich namentlich benennen oder als Bild darstellen zu wollen. Sie ist das „Paradies gleich um die Ecke"(O paraíso na Outra Esquina), um den Titel des letzten Romans von Mario Vargas Llosa zu zitieren, der auf Paul Gauguins Spuren in der Südsee wandelte. Der Maler suchte bekanntlich seine Inspiration in Tahiti, weil die Kunst in Europa, gegängelt und manipuliert von einem Klüngel aus Kritikern und Galeristen, ihre Vitalität verloren hatte.

Dieser utopischen Idee ist es zu verdanken, dass, wie Boris Groys formulierte, jede kurze Visite im schlechtesten Museum der Welt tausendmal interessanter ist als alles, was man während seines langen Lebens in der sogenannten Wirklichkeit zu sehen bekommt. Auch Goethes Faust hatte das Erlebnis des Unendlichen bekanntlich in der Bibliothek, um es dann später im wirklichen Leben zu verlieren.

O diabo não é tão feio como se pinta
(Der Teufel ist nicht so hässlich, wie man ihn malt, brasilianisches Sprichwort)

In seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft versucht sich Immanuel Kant an einer Rangordnung der Künste. Der erste Platz gebühre der Dichtkunst, die fast gänzlich dem Genie ihren Ursprung verdanke und am wenigsten durch Vorschriften geleitet sei. Die Tonkunst setzte er an die zweite Stelle aufgrund der ihr eigenen „Bewegung des Gemüts". Die bildende Kunst folgte danach, wobei innerhalb dieser die Malerei am höchsten zu bewerten sei, da sie mehr als andere Künste in die Region der Ideen eindringe und auch das Feld der Anschauung erweitere.

Kants langer Arm scheint auch den Malern von heute wertvollen Beistand zu leisten. Denn nach Jahrzehnten der Verbannung kehren sie nun auf den Olymp der bildenden Kunst zurück. „Quem determina o fim da pintura é Cezanne e não M. Duchamp" kritzelte Artur Barrio, lakonisch wie immer, in einer seiner letzten Installationen an die Wand.

Die Malerei war in den 70er Jahren ein Opfer oberflächlicher Politisierung geworden, welche die Leinwand mit der Dominanz männlicher Genies von Michelangelo bis Picasso in Verbindung brachte und in neuen Medien wie dem Video adäquatere, neutrale Bildträger fand, die zudem den vermeintlichen Vorteil hatten, soziale und politische Botschaften leichter transportieren zu können. Ist mit der Malerei also apolitisches Verhalten in die Kunst zurückgekehrt?

"Wir sind noch nicht recht gewöhnt an eine Malerei, die wieder ungeniert Malerei ist, ohne sich noch jenem Programm zu unterwerfen, das wir meist etwas gedankenlos KUNST nennen. Die "Kunst der Malerei" war schon längst da, als KUNST, in ihrer abstrakten Würde, noch lange auf sich warten ließ, und deswegen kommt sie heute wieder, nachdem KUNST etwas von ihrem Monopol verliert. In der Kunst darf es keine Lügen geben, nur Wahrheit, wo sie doch selber eine große Fiktion ist, zumindest eine ungewisse Idee. Von Lüge zu reden, wäre in der Kunst ein harter Vorwurf, in der Malerei aber eine feine Beschreibung, denn sie verfügt über schöne und alte Lügen, wenn man ihre erprobten Regiespiele der Wahrnehmung so nennen darf, auf die wir wie ein neugieriges Theaterpublikum warten. Wir nehmen auch sonst die Welt wahr, nicht nur in der Malerei. Aber in der Malerei sind wir als Person im Gespräch mit einer anderen Person, die hinter der Wahrnehmung Regie führt. Dieser stumme Dialog macht Malerei lustvoll und rätselvoll. Die Malerei macht uns Wahrheiten leichter, indem sie sie in "durchsichtige" Lügen kleidet. Sie benutzt Lügen, mit denen man Wahrheiten sagen kann". [4]

Lauter unbekannte Meisterwerke

In seinem Atelier in der Rua Cândido Lacerda 311 von Recife hat Paulo Bruscky eine beeindruckende Geschichte von Kunst und Welt der letzten 40 Jahre zusammengetragen: Klassiker der Belletristik, wissenschaftliche Schriften, Abhandlungen zur Ästhetik, Traktate. Stapel von Zeitungsausschnitten türmen sich auf dem Boden. Dazu Briefe von Kollegen der Fluxus-Bewegung, Objekte und kleine Skulpturen. Fein säuberlich numerierte Aktenordner mit den Initialen der wichtigsten Kunstländer enthalten Brusckys Korrespondenz mit der Kunstwelt, fast dem Archiv der Biennale von Sao Paulo vergleichbar. Recife als Nabel der Welt, und der Künstler ein Wissenschaftler wie in Johannes Vermeers "Geograph" von 1669. Eine Bibliothek als Bollwerk gegen die Welt? Oder ist Brusckys Sammelwut vielleicht auch ein stummer Aufruf an die jungen Künstler, zu studieren, zu recherchieren, Theorien auszuloten, kurzum sich zu bilden?

In einer Ecke des unaufgeräumten Studios liegen unbeachtet eine verstaubte Staffelei, sowie mehrere Paletten mit eingetrockneten Farbklecksen. Die Werkzeuge des Malers wirken merkwürdig deplaziert vor der Übermacht von Büchern, Objekten und Konzepten. Ein Sinnbild für die in den letzten Jahren immer wieder beschworene Krise der Malerei. Was können uns gemalte Bilder noch sagen angesichts der Komplexität der Welt und der Fülle neuer Medien, darunter auch Brusckys Fax- und Mail-Art?

In Brusckys Fundgrube sind unter einem Wust von Papier all jene imaginären Bilder begraben, die in der letzten Generation nicht gemalt wurden: Lauter unbekannte Meisterwerke, um mit Balzac zu sprechen. Brusckys Atelier verkörpert zwei konkurrierende Modelle der Weltanschauung. Das eine sammelt, bewahrt, sichtet Dokumente und geht dabei fast wissenschaftlich vor. Das andere – jenes mit dem Pinsel gemalte - löst sich vom Schwall der Informationen und schafft eine neue, parallele, ja gelegentlich auch konträre Welt. Während erstere Methode einen allumfassenden Anspruch auf Interpretation von Welt hat und dabei Gefahr läuft, dogmatisch zu werden, genügt es letzterer, einen flüchtigen Augenblick im Gespinst der menschlichen Begegnungen festzuhalten und den Schatten aufzuhellen, der sich über die Welt gelegt hat.

Wenn Malerei auf die Vielfalt möglicher Verstehensweisen abzielt, bemüht sich Wissenschaft um deren Reduktion. Kunstwerke mögen offen und mehrdeutig sein, eine wissenschaftliche Studie ist es nicht. Darum wird gute Kunst auch weiter schlechte Wissenschaft bleiben - und umgekehrt.

Die Biennale wird Brusckys Atelier, das neben seinem konzeptuellen Wert auch einen plastischen Reiz und eine gewisse melancholische Poesie besitzt, in Sao Paulo detailgetreu aufbauen. Sie räumt aber auch sein Sammelsurium der Nostalgie für einen Moment zur Seite und lüftet all jene imaginären Bilder, die weder er noch seine Künstlerkollegen in den letzten Jahren malen konnten, ja malen durften. Mehr denn je geht es in der Kunst von heute wieder um die Macht des Bilderschaffens und weniger um die Fähigkeit, Daten zu sammeln. Diese Aufgabe kann man getrost den Wissenschaftlern überlassen, jenen Chronisten der Unzulänglichkeit der realen Welt. Das Geheimnis der Malerei liegt darin, dass ein winziger Pinselstrich den Schleier des Alltäglichen zerreisst und eine neue Welt zum Vorschein bringt, vor deren Rätsel die Statistiken der Mathematiker versagen. "Die winzige Kluft, die zwischen dem Bild selbst und dem, was es bedeutet, besteht, ist die Quelle meiner Malerei" (Luc Tuymans), [5]. Bei jedem Gemälde geht es also auch um jenes Stückchen Niemandsland, das dort liegt, wo die Welt aufhört und die Leinwand beginnt.

Dammi i Colori

Im ersten Akt von Puccinis Oper "Tosca" malt der Protagonist Mario Cavaradossi das Porträt einer blonden Adeligen. Plötzlich hält er inne, zieht aus seiner Westentasche ein Medaillon mit dem Bild seiner Geliebten Tosca und lässt seinen Blick mehrfach von der Miniatur zum Gemälde schweifen, das auf geheimnisvolle Weise die Schönheit beider Frauen vereint. Die Koexistenz der Rivalinnen, die im wirklichen Leben zu Konflikten führen würde, ist auf friedlichem Weg nur über die Kunst zu bewerkstelligen, die oft genug Unversöhnliches zusammenführt und Abwesendes anwesend sein lässt.

Erst Toscas Eifersucht veranlasst Cavaradossi, die blauen Augen der Konkurrentin schwarz zu übermalen, damit das ambivalente Porträt ihrem, Toscas, Ebenbild ähnlicher werde. Die "zarte Harmonie" des Bildes, so auch der Titel von Cavaradossis berühmter Arie, ist gestört. Es liegt in der Macht des Malers, durch winzige Eingriffe Gleichmaß herzustellen und zu zerstören, Schönheit herbeizuzaubern oder zu vernichten.

Man sage nun nicht, Schönheit sei längst in die Salons der Mode abgewandert und kein Kriterium mehr in der modernen Kunst. Einer der Meister der Gegenwartsmalerei, Gerhard Richter, besteht darauf, schöne Bilder zu malen, auch wenn er mit dieser "altmodischen" Haltung so manchen Kritiker enttäuscht, der lieber mehr Gewaltszenen sehen würde. Richter weist auch gerne darauf hin, dass bei ihm zu Beginn des Malens ein mentales Bild stehe, das er in der Ausführung seiner Arbeit freilich nur selten erreiche. Auf dem Weg zu diesem "Vorbild" beseitigt er dann systematisch naheliegende, banale Details und Klischees.

In dieser Auslöschung unnötiger Dinge besteht also die Abstraktion der Malerei, was wohlgemerkt sowohl für figurative wie abstrakte Bilder gilt. Damit ist auch der Unterschied zur Fotografie beschrieben, die paradoxerweise im Vergleich zur Malerei, die reine Bilder schafft, unreine produziert, weil sich in einer Fotografie stets kleine Fehler technischer Art oder nicht gewollte Unregelmäßigkeiten, die auf Zufälligkeiten beruhen, einschleichen. Die Reinheit eines Gemäldes besteht also gerade im Verlust von Details und im Verzicht auf Überladung. Luc Tuymans erzählt dazu gerne folgende Anekdote: Als Constant Permeke im Jahr 1940 bei einer Ausstellungseröffnung in Brüssel von einer Dame kritisiert wurde, seine Gemälde seien "etwas leer", nahm er ihren Lippenstift und zeichnete in eines seiner Bilder ein paar Fallschirmjäger, die vom Himmel stürzten. Voilà , 2 Tage später befand sich sein Land im Kriegszustand.

Warum erlebt die Malerei, die auch auf der Biennale prominent vertreten ist, heute wieder einmal eine Wiedergeburt? Warum hat sie im ewigen Disput des "paragone", jener in der Renaissance gepflegten Rangordnung der Künste, wieder Gewicht bekommen? Gewiss ist ihre besondere Aura gefragt, die Nahes entrückt erscheinen lässt, und Fernes herbeiholt. Sicherlich spielt die kritische Auseinandersetzung mit Zeitgeist und Lifestyle eine Rolle, wie ihn Massenmedien und Werbung propagieren, und sicherlich geht es auch um Singularität und handwerkliche Authentizität angesichts einer Lawine technisch reproduzierter Medien. Die statischen Bilder der Malerei wirken wie ein Anker in der Flut mobiler, manipulierbarer Bilder, denen niemand mehr traut. Die stillen Bilder, die zu ungestörter Betrachtung einladen, stemmen sich gegen den Lärm und die Reizüberflutung der kommerziellen Welt. Auch sträubt sich Malerei aufgrund ihres ausgeprägten Eigensinns und ihrer höchst subjektiven Verortung gegen kuratoriale Funktionalisierung.

Der Hauptgrund dürfte aber sein, dass sich die Malerei nicht mimetisch gegenüber der Realität verhält, sondern die Gesetze der Wirklichkeit aufhebt und die Dinge der Welt in prototypischer Gestalt und symbolischer Überhöhung erscheinen lässt. Der Maler jagt weiterhin einem Idealbild von Mensch und Welt nach, das uns allen seit Urzeiten vorschwebt.


Anmerkungen:

1. Hans Belting, Über Lügen und andere Wahrheiten der Malerei , Katalog zu Sigmar Polke, S. 131, Bonn 1997.

2. J.W. Goethe, Schriften zur Kunst, 1822. In Goethes Werke, Band XII, S. 469. Hamburg 1953

3. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795). In Schillers Werke, Band 4. Frankfurt 1966

4. Hans Belting, Über Lügen und andere Wahrheiten der Malerei, Katalog zu Sigmar Polke, S. 129, Bonn 1997.

5. Jan Thorn-Prikker, Luc Tuymans: Renaissance der Malerei, Kulturchronik Nr 3, Bonn 2003

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© Copyright Text: Alfons Hug, Juli 2004

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