Universes in Universe / Karawane / 6. Sharjah Biennale
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Sharjah gerät ins Auge des Kunst-Sturms
Von Antonia Carver


"Das ist alles ziemlich seltsam", bekannte ein Student aus den Emiraten. "Aber ich denke, ich mag dies." Das war eine typische Reaktion auf die hochgradig zeitgenössische 6. Internationale Sharjah Kunstbiennale. Die Anstrengungen der Biennale-Direktorin Hoor Al Qasimi, die Unterstützung durch ihre Herrscherfamlie und die Arbeit des Kurators Peter Lewis aus London haben sich ausgezahlt: dieses war ohne Zweifel das ambitionierteste Kunstereignis, das bislang am Golf und womöglich in der arabischen Welt überhaupt stattgefunden hat. Dem Krieg im Irak und der Flut von Veranstaltungsabsagen am Golf zum Trotz, brachte die einen Monat dauernde Schau Werke von 117 Künstlern aus 25 Ländern zusammen. Unglaublich auch, dass etwa 100 Künstler zu den Eröffnungen am 8. April im neuen Expo Centre und im traditionellen Kunstmuseum angereist kamen.

Sharjah ist das konservativste in der Föderation der sieben Emiraten, die vom ölreichen Abu Dhabi dominiert wird. Darin und in seinem Enthusiasmus für die Kunst und Kultur bildet die Stadt einen scharfen Kontrast zum üppigen Kommerz und den glänzenden Hochhäusern des benachbarten Dubai, dem Tourismus- und Geschäftszentrum. Die vorausgegangenen fünf Sharjah Biennalen waren eher auf lokale und traditionelle Kunstauffassungen, vor allem Malerei, konzentriert. In den Vereinigten Arabischen Emiraten gibt es kaum öffentliche Räume, um Kunst zu zeigen, weshalb den Künstlern oft nichts anderes übrig bleibt, als in Einkaufszentren und Büros auszustellen. Die paar kommerziellen Galerien zeigen vor allem Landschaften in Aquarell oder Öl für Touristen. Im Mittleren Osten zeichnen sich Veränderungen in Bahrain und Amman ab, Beirut und Teheran haben alteingesessene Kunstszenen, und Kairo hat ab und zu eine Biennale, aber ansonsten gibt es für zeitgenössische Künstler wenig Gelegenheit, "zu Hause" auszustellen.

Alles in allem ist die Entschlossenheit von Hoor Al Qasimi, Sharjah auf das Niveau solch neuer Kunsthauptstädte wie Havanna und Gwangju zu bringen, bemerkenswert. "Meine Inspiration war im Grunde die Documenta", sagte die 23-jährige Tochter des Herrschers von Sharjah, "aber ich hatte von der [Sharjah] Biennale nicht erwartet, dass sie auf das Niveau kommen würde, auf dem sie jetzt ist, ich kann kaum glauben, was wir hier geschafft haben."

Die Sharjah Biennale hatte alle Merkmale einer internationalen Veranstaltung zeitgenössischer Kunst, von einem Wälzer von Katalog, voll mit Kunstdiskurs, bis zu einem minimalistischen Café, über "bizarre" Performance-Kunst am Eröffnungsabend. Lokale Ausstellungsbesucher vermieden nervös die Begegnung mit Motoko Ohinatas "Hasen-Mensch", der auf der Museumstreppe an einer Möhre knabberte, während sie von Tatsumi Orimotos Brot-Mann-Performance angetan waren.

Dem jüngsten internationalen Kunsttrend folgend, stand Video im Vordergrund, von Masharawis Dokumentationen der Intifada bis zu den animierten Zeichnungen von Kentridge. Der palästinensische Filmemacher Rashid Masharawi erhielt den Auftrag, ein neues Werk speziell für die Biennale zu schaffen. Das war eine kluge Entscheidung: seine dreiteilige "Shahrazad" ist ein außergewöhnliches, verstörendes Porträt der Anspannung des täglichen Lebens unter der Okkupation und als Flüchtling. Verdienterweise wurde ihm einer der Sharjah Kunstpreise verliehen. William Kentridge, der Liebling der Kunstwelt, erhielt ebenfalls einen großen Preis für seinen opulenten Animationsfilm, mit dem er das Südafrika der Apartheid und Post-Apartheid kritisiert. Auch sein Landsmann Zwelethu Mthethwa zeigte eine bemerkenswerte Arbeit.

Weitere von der Jury ausgezeichnete Künstler sind der junge britische Bildhauer Jim Coverley, den Hoor Al Qasimi zwei Jahre zuvor bei dessen Londoner Diplomausstellung entdeckte, sowie Mohammed Kazem aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, dessen Fotografien überall zu sehen waren, da sie auf dem größten Teil des Werbematerials der Biennale und auf dem Katalogumschlag erschienen. Dem jungen Emirati ist eine ideale Figur für die Ausstellungsplakate gelungen. Seine satt-farbigen autobiographischen Fotos gehen der Beziehung eines Einheimischen zu seiner sich ständig verändernden Umwelt nach.

Noch etwas weiter gehen die mit Nadeln vollgesteckten Leinwände von Wejdan Salem Almannai aus Bahrain, die eindringlich deren Wunsch ausdrücken, "eine konzentrierte Sphäre langsamen Leidens" zu schaffen. Sie ist eine der Künstlerinnen, die man im Auge behalten sollte. Der pakistanische Künstler Zain Mustafa hatte das Glück, dass eine seiner 21, auf einer Wäscheleine hängenden Kurtas vom Emir Sharjahs signiert wurde. Der Kunst liebende Dr. Sheikh Sultan bin Mohammed Al Qasimi fügte den Friedens-Graffitis auf der zerrissenen traditionellen Kleidung den Spruch hinzu: "Bringt die Kanonen zum Schweigen".

Trotz der Unmenge an künstlerischen und politischen Einflüssen, sind einige thematische Stränge zu erkennen. Wie sich in der internationalen Kunstwelt allgemein abzeichnet, hatte auch diese Biennale eine starke asiatische Beteiligung, angeführt von der hoch intelligenten und einnehmenden Kunst von Tatsuo Majima.

Einige der besten Beiträge reagierten nachdenklich auf die aktuelle politische Situation: die in den USA lebende Iranerin Taraneh Hemami zeigt ihre alten Fotos normalerweise auf Blöcken aus beschichtetem Spiegelglas, die an der Galeriewand zu Mustern angeordnet werden. Ihren Raum in der Biennale füllte sie mit einem Schutthaufen. Der Szene kriegsähnlicher Zerstörung fügte sie solche Fotos hinzu. Die Bilder stammen von in den USA lebenden Iranern: jedes einzelne ist ein wertvoller, fragiler Block der Erinnerungen.

Andere Künstler setzten sich wirksam selbst in Szene. Chris Grottick aus London nutzte den Vorteil, dass er schon ein paar Jahre zuvor im Museum ausgestellt hatte: speziell für das Ende des langen Mittelgangs konzipierte er eine erstaunliche Videoarbeit. Der deutsche Künstler Klaus Fritze füllte seinen Raum mit Tausenden von Zeitungsausschnitten - Gesichtern, obsessiv geordnet und an Stielen und Gabeln in Reagenzgläsern gezeigt oder an Wäscheklammern hängend. Sein überbordendes Medien-Museum entsprach bestens der aktuellen Flut von Nachrichten aus dem Mittleren Osten. Der in Sharjah lebende palästinensische Fotograf Tarek Al-Ghoussein zog alle Register mit seinen großen Leuchtkasten-Fotos, präsentiert in einer eigenen dunklen Minigalerie im Expo Centre. Die autobiographischen Bilder zeigen den in das emotional beladene und hoch symbolische Palästinensertuch gehüllten Künstler in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Jordanien.

Der Beitrag von Zineb Sedira aus London beinhaltete eine eindringliche Reihe subtiler Fotografien aus dem Haus ihrer Großmutter in Algerien, begleitet von der Unmittelbarkeit einer dreiteiligen Videoarbeit. Auf separaten Monitoren sah man Großmutter, Mutter und Tochter, wie sie sich jeweils in Arabisch, Französisch und Englisch ansprechen, aber nie zu verstehen scheinen. "Das ist unser Leben!", meinte ein in Dubai ansässiger, jordanisch-palästinensischer Kollege. Einfach, direkt, bewegend umriss Sedira die Erfahrung von Emigranten. Unter den vielen anderen Arbeiten, die sich mit nationaler Herkunft und Diaspora auseinandersetzten, stach die Installation "Babel" der britischen Künstlerin Beth Derbyshire als anrührig und nachdenklich stimmend heraus.

Die Werke anderer Künstler passten nahtlos in das Ambiente am Golf. Der Kabinettschrank mit vergoldeten Schmuckstücken (Mickey Mouse, Mobiltelefone, Porzellanfiguren etc.) des Iranischen Spitzenkünstlers Farhad Moshiri war eine Persiflage auf vom Kitsch besessenen Kaufrausch. Die inspirierte Installation fand ihr natürliche Zuhause in den Vereinigten Arabischen Emiraten, dem Ort, an dem - wie AA Gill einst schrieb - "Kaufhäuser Urlaub machen". Santu Mofokengs hintergründige Fotografien von Werbetafeln in südafrikanischen Townships gingen über eine simple Lesart der Konsumgesellschaft hinaus. Ein anderer iranischer Künstler, Seifollah Samadian, zog ebenfalls die Aufmerksamkeit auf sich. Er zeigte ein subtiles und wunderbar komponiertes Video einer Frau im schwarzen Tschador, die wie verloren kreuz und quer durch den Schneesturm in Teheran stapft.

Die Künstler-Theoretiker aus Beirut Jalal Toufic und Tony Chakar steuerten intellektuelle Tiefe bei - sowohl zur Ausstellung wie auch zum Symposium, wo einige faszinierende Vorträgen die Verwurzelung der Werke im Kontext der arabischen Welt unterstrichen. Leider waren die Debatten nicht genügend bekannt gemacht worden, weshalb nur wenig Teilnehmer kamen.

Gegenüber all diesen auf-und-kommenden Talenten aus dem Mittleren Osten und dessen Diaspora erschien die Einbeziehung solch längst anerkannter Künstler, wie Christo und Jeanne-Claude - repräsentiert durch Fotos von berühmten ortsspezifischen Projekten in den 1980er Jahren - ziemlich redundant.

Trotz des überwältigenden Enthusiasmus der Künstler von außerhalb gab es auch einiges auszusetzen. Für einige von ihnen verwandelte sich der Aufbau ihrer Werke in einen traumatischen Prozess, und am Eröffnungstag blieben einige Arbeiten unvollendet. Das Thema der Kuratoren "Neue Ästhetiken, neue Kunstpraktiken" blieb zum Teil unterentwickelt. Aber diese Punkte sind von eher geringer Bedeutung.

In Bezug auf die zeitgenössische Kunst ist Sharjah nun auf der Bühne der Welt. Die Künstler und die paar Kuratoren und Galeristen, die angereist kamen, stimmten darin überein, dass die Ausstellung durchaus mit etablierteren Biennalen konkurrieren kann und dass ihre Teilnahme eine bereichernde Erfahrung ist. Das lokale Publikum trat den Werken "frisch" und unbefangen gegenüber, viele betrachteten und genossen sie frei von den Theorien oder Kontexten der Kunstwelt. Auch gegen Ende der Ausstellung zog das Museum noch viele Besucher an, insbesondere einheimische Frauen, von denen einige mehrmals kamen, um den Schock des Neuen zu absorbieren. Die Kuratoren hatten eine gewagte Vision und waren klug genug, "zensierte" Werke einzubeziehen, auch wenn diese nicht offen gezeigt werden konnten. Ein besonders deutliches Beispiel war die Sammlung von S Chandrasekarans Zeichnungen zum Lebenszyklus: viele der kleinen Rahmen hingen verkehrt herum, so dass es dem Publikum überlassen blieb, diese umzudrehen, um einen Blick auf die Bilder zu werfen.

Die Sharjah Biennale hat das Potenzial, ihre Reputation als eine in die Zukunft gerichtete Veranstaltung auszubauen und zum wichtigsten Schaufenster für die Kunst des Mittleren Ostens zu werden, auch wenn die Schaffenszentren nach wie vor Kairo, Beirut, Teheran und - für die Diaspora-Künstler - London und Paris bleiben werden. Wenn die Biennale ihren Status als Wegbereiter der Kunst des Mittleren Ostens festigen kann, könnte sie sich von anderen Kunstveranstaltungen unterscheiden und zum Anlaufpunkt für an der Kunst der Region interessierte Kuratoren werden. Mag man es für zynisch halten oder nicht, dies zu sagen, aber die aktuellen politischen Ereignisse haben ein neues Bedürfnis nach einer komplexen Sicht der Region zur Folge. Viele der in der Biennale vertretenen Künstler erzählen eine alternative Geschichte gegenüber den bombastischen Nachrichten. Vielleicht wird das Frühjahr 2003 als der Beginn einer neuen Ära der zeitgenössischen Kunst am Golf in Erinnerung bleiben.


(Übersetzung aus dem Englischen: Pat Binder & Gerhard Haupt)

 


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