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The Great Society

Text zum Ausstellungsprojekt im Loveland Museum/Gallery, Colorado USA.
(Februar - April 1999)

Das aufwärtsstehende Land,
rissig,
mit der Flugwurzel, der
Steinatem zuwächst

Paul Celan

I

Das Museum Loveland liegt vor einem Platz und an einer Kreuzung. Es fügt sich, ohne Aufhebens zu machen, in die Stadt; es ist wie alle andern öffentlichen Gebäude von aussen weder besonders geschlossen, noch besonders offen. Es ist eine Institution. Gemäss Programm will das Museum ein aktiver Ort sein, wo sich Leute treffen, um Ideen auszutauschen, Kunst zu gucken, Poesie zu hören und über Vergangenheit und über Zukunft nachzudenken. Es wird zwischendurch von einem Kunstverein beansprucht als Ort für lokale Künstler und Hobbykünstler, von Leuten, die das, was sie sehen, sehr ernst nehmen. Die Arbeiten sind beliebt und werden gekauft. Dass eine Blume eine Blume, eine Frau eine Frau und ein Himmel ein Himmel ist: so soll es sein, auch im Museum, vor allem im Museum. Warum nicht?


II

Es gibt Zufälle. Die Kuratorin konnte nicht wissen, dass es zwischen der ersten und der zweiten Ausstellung in diesem Jahr Korrespondenzen geben wird. Ich war, als ich Januar nach Fort Collins kam, erstaunt, im Museum auf Arbeiten von Australischen Aborigines zu stossen, die zwar Wasserlöcher, Schlangen, Gesänge, die ihnen die Landschaft abstecken, erfahrbar machen, während ich mich an zerstörte Wälder hielt und an marschierende Soldatenfüsse. Auch sie Terrains absteckend. Der andere, offensichtliche Unterschied bei ähnlichem Umgang mit Räumen: die Arbeiten der Aborigines wirken, nachdem sie Holz und Rinde als Material kaum mehr gebrauchen, in den Tafelbildern sehr bestimmt im Darstellen des Unbestimmten, und dadurch dekorativ. Dagegen wirken Baumstrünke destruktiv, kaputter und zerstörter, auch wenn sie im musealen Raum Würde zurückgewinnen. Zerstörung ist kein »Privileg« des 20. Jahrhunderts, sondern etwas sehr »humanes«. Seit es uns gibt, sind wir geniale Erfinder und Überleber, aber auch ebenso geniale Kaputtmacher. Die »Grosse Gesellschaft«, die sich inzwischen »Global Society« nennt, ist ein kompliziertes, undurchsichtiges Durcheinander, für das es historisch kein Beispiel gibt. Es ist, auch wenn der Einzelne es gern auf sich selbst bezieht, eine Verdrängungsgesellschaft. Wir verdrängen, so weit möglich die schrecklichen Ängste, die Verzweiflungen in die uns die gesellschaftlichen Zustände eigentlich stürzen müssten. Brave new world, trotz allem. Es geht ja weiter, raffinierter, geschwinder und unabsehbarer.


III

Für mich überraschend, wenn auch einsichtig, wie geradezu grotesk harmlos Colorados mittlere Städte auf den ersten Blick wirken: sauber, verbrecherfrei, offen und durchschaubar. Manches, das an die Gründerzeit erinnert und Modernes. Äusserlich durchschaubar an den optisch streng funktionalen Fabrikkomplexen: kleine hightech-Festungen, wo avancierte Technologie produziert wird, während nachts in den Kneipen hillbilly und country-music läuft.

Irgendwie ist die globale Gesellschaft ganz weit weg und präsent.


IV

Peripherie, Provinz

Die Provinz kennen wir. Teils kommen wir von dort, haben sie ertragen, gehasst, geliebt und verflucht, teils trieb uns der Brotberuf in die Inseln der Langeweile und der Enge, die als Gefängnisse wirken. Es sind aber auch die Orte, wo wir unsere Körper entdeckt haben, und die Fremden, den Anderen, die Andere. Und wo ein Septembernachmittag mit seiner melancholisch milden Sonne etwas von dem vermittelt hat, was wir anspruchsvoll, aber uns angemessen scheinend das »Erhabene« oder das »Transzendente« nannten, das Intensivere als alles übrige. Sehen, riechen, spüren, fühlen. Hier lernten wir mit der Nase umzugehen und mit dem Kopf, hier lernten wir mit den Händen und Füssen uns zu wehren. Hier hörten wir zum ersten Mal Töne und Tonfolgen, die uns weghoben, zerfetzten und wieder zusammenfügten, die uns tanzen liessen. Be high. Be hot. Be in the groove, ohne speed, nur mit schwarzer Musik.
Tougher than the rest. In der Provinz ist das für die, die es wissen möchten, intellektuelle und künstlerische 'Pflicht'.
In der Pheripherie heisst das: Überleben, Kampf (Kampf bis aufs Messer, wenn es so ist und anders nicht geht). Peripherien sind gemessen an der deftigeren, sinnlicheren Provinz abstrakter, flüchtiger, maroder und moderner, zukunftseuphorischer und apokaliptischer. Es sind glitschige, abschüssige, hochbrisante und langweilige Terrains, Orte des extrem Gewaltätigen, Exzessiven, Kriminellen, aber auch der flüchtigen Zärtlichkeit und Poesie; Explosives, Resignatives und, ja, es sind auch Orte der Liebe und des bizarr Schönen.


V

Kunst ist das, was sie ist, schon immer beunruhigend besänftigend, lebensstark und todessüchtig, bebilderte Erinnerung und Neues, Unentdecktes. Sie ist unsere letzte Provinz und unsere extremste Pheripherie. Deadland (Wüste) und wunderland (Imaginäres, Zukunft). Kunst ist heute Provinz und Peripherie. Sie produziert immer wieder, und in diesem Jahrhundert am grandiosesten in den Werken, die wir der klassischen Moderne zuordnen, ein Konglomerat an Stilen. Fast alle sind in der Ich-Provinz angesiedelt, wo wie bei den Surrealisten alles und jedes exploriert und magisch phantastisch transformiert wurde: Muscheln, Pferde, Leuchttürme... Oder faszinierend konsequent auf Elementares reduziert (Mondrian, Kline, Ad Reinhardt). Oder in der schrillen Wiedergabe von industriell Verwertbarem (Rauschenberg).
Provinz! Weil dort fast alle ihre Stärke aus der Beengung und Einschränkung heraus gewinnen, wird sie gemieden, gehasst und geliebt. Und bleibt in der Kunst Thema und Folie.
Die Peripherie sowieso. Als unwirtliche, unmögliche Randzone, als Schizophrenie, Verflachung, Zerdepperung, als kriminelles Milieu, Ort der Vergewaltigungen und blutigen und gescheiterten Aufstände, aber immer auch wieder der Innovationen und der Durchbrüche. Ohne Peripherie (und ohne Provinz) wäre die heutige Kultur schon längst ungeniessbar vertrocknet. Der Flaneur von früher ist heute Voyeur und Beobachter an den Rändern, die längst Zentren geworden sind. »Die Blumen des Bösen« (Baudelaire) lauern nicht mehr im Stadtkern, sie sind ausgewandert. Outlaws und Erlebnishungrige, Kunstsüchtige und Neugierige vermischen sich in lauten, grellen Events. Die Peripherie (auch die virtuelle, die neuhinzugekommen ist und und überall und nirgends ihr www-Wesen treibt), ist autistisch, cool, intelligent und hochkarätig abstrakt.


VI

The great Society

Die »grosse Gesellschaft« ist eine Durcheinandergesellschaft, die von der Ambivalenz, der Unsicherheit und der Ungewissheit lebt. Sie hat ihre Resourcen optimiert, wenn die Angehörigen zu der Überzeugung kommen, dass sie an keinem anderen Ort und zu keiner anderen Zeit lieber leben würden als hier und jetzt.
Auf der andern Seite der Albtraum, entwurzelt zu sein, ohne Papiere, staatenlos, mittellos, allein, entfremdet in einer Welt der Anderen. Das Fremde als das Unerwünschte, auch wenn ästhetisch die Differenz als Bereicherung gepriesen wird. Es geht um Macht, um Sicherung des eigenen Terrains. Die Ordnungen, die errichtet werden oder die man sich vorstellt, sind angeblich rational, die Wahrheit universal, das Ziel der Gewissheit und der absoluten Wahrheit dabei aber schlecht ununterscheidbar vom Geist der Kreuzzüge und dem Projekt der Herrschaft. Es ging und es geht um Macht. Es geht, ob in Vietnam, Kuba oder im Irak um Interessen.


VII

An Land gezogen von
der weissesten Wurzel
des weissesten
Baums.

Paul Celan


Im Museum herumwandern, ohne sich an einzelne Werke, an Narratives klammern zu können.
Baumstrümpfe als Bilder einer Ausstellung? - Natürlich meinen sie Verletzungen, Rodung (um Land urban zu machen), Rodung, um den Feind zu vernichten. Erinnerung an Gewesenes und noch immer Gegebenes: Chemieeinsätze, um Leben zu zerstören, Kahlschläge in Gesellschaften und in die Natur. Die Farbe Weiss sagt aber komplex und vielstimmig auch anderes. Weiss ist die Asche, weiss ist das Brautkleid, weiss ist im Osten die Todesfarbe, weiss sind Landschaften und Räume des Traumes: aufdringlich nah und fern. Aus dem Weiss holt der Maler alle Farben, die er braucht. Glühendes Rot, transzendentes Grau, Giftgelb und Ozeanblau.

Im Museum herumwandern, ohne sich an einzelne Werke, an Narratives klammern zu können. Eine Zumutung. Ich probiere. Ziehe Linien. Mache Schritte.

Urs Jaeggi
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© Urs Jaeggi  /  Website:  Universes in Universe