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"Notre monde vient d'en trouver un autre"
(Montaigne, Essais III, 6)
"In an increasingly polycentric world, our task
may be to prepare for a world in which nothing is pink on the map."
(Henry Louis Gates Jr., Loose Canons. Notes on the Culture Wars, 1992)
"I think first of all that the western theoretical
establishment should take a moratorium on producing a global solution."
(Gayatri Chakravorty Spivak, The post-Colonial Critic, 1990)
Heterologie nannte der französische Historiker Michel de Certeau
eine auf der Karte der Wissenschaften erst noch einzutragende "Wissenschaft
des/vom Anderen", die die Routen und Räume des Reisens über
Europas Grenzen hinaus seit den missionierenden und kolonialistischen
Anfängen als Fahrten und Fährten untersucht, auf denen die Projektionen
des Eigenen auf das Fremde beschrieben worden sind. Diese neue Wissenschaft
hätte freilich die Perspektive der Beobachtung zu verändern
und sich der destruktiven Gestehungskosten zu vergewissern, wie sie Montaigne
als einer der ersten und der Forschungsreisende Alexander von Humboldt
nicht als letzter beschrieben haben, der 1801 während der Reise auf
dem Río Magdalena in sein Tagebuch notierte: "Wie unwirthbar
macht europäische Grausamkeit die Welt!" Die Auseinandersetzung
mit dem Fremden, "kontinuierliche Unterströmung der gesamten
europäischen Geistesgeschichte seit dem 16. Jahrhundert" [1],
wie sie sich in einer "projektiven Ethnologie" (anders als
bei Montaigne und A. v. Humboldt) symptomatisch darstellt, (miß)versteht
den Anderen und seine Kultur nur als Projektion der eigenen Kultur. Diese
traditionellen Visionen will die von Michel de Certeau geforderte "Wissenschaft
des/vom Anderen" korrigieren. Wie in der antiimperialistischen Anthropologie
Claude Lévi-Strauss' und in vielen davon inspirierten Forschungen
wird der Rahmen eines geschichtsphilosophischen und religiösen Universalismus
zerbrochen, weil er die Vielfalt und die Verschiedenheit der Kulturen
autoritär begrenzt und der Zerstörung ausliefert. Solange die
Kritik an der Praxis der Eroberung und Kolonisierung "fremder"
Völker den diese Praxis legitimierenden Denkrahmen nicht grundsätzlich
in Frage stellen konnte (oder wollte), fehlten die Voraussetzungen für
solche "Wissenschaft des/vom Anderen", war eine kritische
Geschichte des Euro- und Ethnozentrismus nicht möglich. Noch für
die Aufklärung, die das Prinzip der Kritik und Selbstkritik begründete,
war Europa nicht bloß der Mittelpunkt der Welt, sondern der Inbegriff
der ganzen Menschheit. Erst mit der europäischen Romantik wendete
sich das Blatt, wenngleich in den Grenzen idealisierender und rousseauistischer
Vorstellungen vom "guten Wilden", die nicht frei von Paternalismus
sind. Friedrich Schlegel, selbst Begründer einer Zeitschrift mit
dem Titel "Europa", kritisierte in seinen Wiener Vorlesungen
"Über die neuere Geschichte" (1810) zu einer Zeit, als
in den spanischen Kolonien die Unabhängigkeitsbewegungen begannen,
die europäische Selbstüberschätzung gegenüber Amerika
und Asien. "So unabhängig sich Europa wähnt, so sehr es
selbst nicht bloß der Mittelpunkt sondern der Inbegriff der ganzen
Menschheit zu seyn glaubt, so herrschend im achtzehnten Jahrhundert der
europäische Einfluß nebst Amerika auch in Asien geworden ist,
mehr fast als unter Alexanders Nachfolgern oder Rom's Cäsaren, so
ist dennoch Europa eben durch diese Herrschaft, durch diese außereuropäische
Macht vielfach gebunden, und die erste Quelle der Veränderungen,
welche hier vorgehn, meistens in den Bewegungen und Erschütterungen
entfernter Welttheile zu suchen." [2]
Wie Herder vertrat auch Kant einen ehtno- und eurozentrischen Standpunkt
als er z. B. in den "Beobachtungen über das Gefühl des
Schönen und des Erhabenen" (1754) den Begriff des "Läppischen"
auf rassistische Weise bei den "Negers von Afrika" identifizierte.
"Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches
über das Läppische stiege." Das sind keine nur nebensächlichen
und längst überwundenen Merkmale eines Denkens, das den Rahmen
und die Grenzen der Universalität, der Menschheit und der Menschlichkeit
durch Exklusivität von einem bestimmten Zentrum aus festlegt und
den Anderen marginalisiert und an die Peripherie verweist. Ein europäischer
"Wille zur Macht" zersetzt und gefährdet die Axiome der
Aufklärung, die Ideen der Demokratie, der Gerechtigkeit, der Solidarität
und der Toleranz. Als in den 80er Jahren die Rede vom "Europäischen
Haus" und von der kulturellen Identität Europas die Runde machte,
deren Rhetorik in den neuen heißen Kriegen in Osteuropa schnell
ihre Stunde der Wahrheit erlebte, blieb unerkannt, daß es Hitler
war, der in seiner den Austritt Nazideutschlands aus dem Völkerbund
rechtfertigenden Rede vor dem Deutschen Reichstag am 7. März 1936
das Bild des "Europäischen Hauses" benutzte, um die germanisch
dominierte "Anerkennung der völkischen Substanz" einzufordern.
Carl Schmitt hat damals diese Rede kommentiert. "Wenn der Führer
und Reichskanzler Adolf Hitler noch in seiner großen Reichstagsrede
vom 7. März 1936 die europäischen Nationen als eine 'Familie'
und Europa als ein 'Haus' bezeichnet hat, so handelt es sich hier nicht
um irgendeine der auch früher vorkommenden Redewendungen von der
'famille des nations', sondern um die bewußte Fundierung einer neuen
europäischen Ordnung auf den Geist der Gemeinschaft und Verwandtschaft
der europäischen Völker." [3]
In unseren Tagen hat Jacques Derrida in einer Rede über die europäische
Identität (1990) auf die alten und neuen Formen kultureller Machtübernahme
aufmerksam gemacht. Er zitierte einen Text des Stuttgarter Kongresses
"Kulturraum Europa" (Juni 1988), der in bester Absicht den
imperialen und missionarischen Gestus des Eurozentrismus reproduziert.
Es heißt darin: "Es gibt keinen politischen Ehrgeiz, der nicht
durch eine Eroberung der Geister vorbereitet werden müßte:
der Kultur kommt es zu, das Gefühl einer europäischen Einheit
und Solidarität durchzusetzen." [4] Die Geographie der Räume
und ihrer Gliederungen in Herrschafts- und Einflußgebiete, in Zentrum
und Peripherie, Kernzonen und Randzonen (schon sprechen deutsche Politiker
wieder von Kerneuropa!), oder (wie manche jetzt zu spekulieren beginnen)
in Westeuropa als Kulturraum und Osteuropa als Naturraum, wird von einer
globalstrategischen Logik bestimmt. Sie hat den im Namen der Verteidigung
kultureller Identität vorgetragenen Widerstand gegen solche zentralistischen
und totalisierenden Tendenzen herausgefordert. Das Problem dabei ist,
ob die kulturelle Identität in dem durch die Logik der Räume
und Einflußsphären vorgegebenen Rahmen definiert wird oder
ob jenseits dieser Logik des Kulturimperialismus andere Alternativen denkbar
sind. Auf diese diskutable und offene Frage zielen Überlegungen wie
die Jacques Derridas, in denen die universalistische und imperiale Zentralperspektive
aufgegeben ist zugunsten einer Konfrontation (und einer Prüfung ihrer
Entsprechungen) der Selbstbehauptung einer Identität mit dem Universellen.
Dann wird man fragen, "ob es also ein Heute Europas jenseits des
erschöpften, erschöpfenden, aber nicht aus dem Gedächtnis
zu löschenden Programms des Eurozentrismus und des Anti-Eurozentrismus
gibt? Gerade indem man über die Neuartigkeit einer kulturellen Herrschaft
in Begriffen von geographisch-politischen Feldern nachdenkt, die sich
seit der Perestroika, der Zerstörung der Berliner Mauer, seit den
sogenannten Demokratisierungsbewegungen und all den Strömungen, die
Europa durchqueren, lüsternen Blicken darbieten, muß man die
Frage der hegemonischen Zentralität neu erarbeiten, inmitten einer
von technisch-wissenschaftlichen oder ökonomischen Daten veränderten
Problematik." [5]
Man kann die Studie, die der seit über 20 Jahren an der New Yorker
Columbia-University lehrende komparatistische Literaturwissenschaftler
Edward W. Saïd 1993 unter dem Titel "Culture and Imperialism"
veröffentlichte, als einen spezifischen Beitrag zur weiteren Klärung
dieser offenen Frage lesen. Saïd ist mit seinem auch ins deutsche
übersetzten Buch "Orientalismus" (1978; dt. 1981 bei
Ullstein), das die Erfindung des Orients im europäischen Diskurs
der Wissenschaften als ein Problem von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung
beschreibt, international bekannt geworden. Sein neues Buch, das man jetzt
in der vom Fischer-Verlag edierten Übersetzung von Hans-Horst Henschen
mit einem sein Thema präzisierenden Untertitel lesen kann, schließt
an diese ältere Studie an: "Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft
und Politik im Zeitalter der Macht".
In der gegenwärtigen Debatte, die hierzulande über eine kulturwissenschaftliche
Orientierung der sogenannten Geisteswissenschaften geführt wird,
könnte das Buch von Saïd den Effekt einer Initialzündung
haben, um sich von dem Druck der Altlasten einer engen disziplinären
und politisch unverbindlichen Wissenschaftskultur zu befreien, die den
Blick für neue Zusammenhänge verstellt und jede kreative Energie
lähmt. Saïds Studie repräsentiert nämlich nicht nur
die anders motivierte amerikanische Wissenschaftskultur, in der "Cultural
Imperialism" heute ein die disziplinären Grenzen der "Humanities",
der Humanwissenschaften, wie man präziser in Amerika die Geisteswissenschaften
nennt, übergreifendes Thema ist. Diese Denkkultur wird von ihm auch
eigens im Blick auf die verschiedenen Disziplinen und Standpunkte dargestellt.
Sie ist der Horizont eines kulturellen und wissenschaftlichen Diskurses,
auf den sich der Literaturwissenschaftler Saïd mit dem Plädoyer
für eine "vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft des
Imperialismus" bezieht. Manche Leser, die sich dabei noch an Georg
Lukàcs' 1946 im ostberliner Aufbau-Verlag erschienene Studie "Deutsche
Literatur im Zeitalter des Imperialismus" erinnern, werden vielleicht
die Stirn runzeln. Ein Vergleich mit Saïds Studie, die einem "Großteil
des westlichen Marxismus auf ästhetischem und kulturellem Gebiet"
Blindheit für die Probleme des Imperialismus attestiert (369), könnte
freilich die Diskussion über die Gründe dafür neu beleben.
Für Saïd ist der Ort, an dem globale Machtkonstellationen sich
in den theoretischen Entwicklungen niederschlagen, vorab die Universität
als die Institution, wo das Wissen produziert und vermittelt wird. Das
große Thema des Buches, die Entkolonisierung des Geistes, verlangt
daher als seine Voraussetzung eine Reise vor Ort in das "kulturelle
Archiv", dessen Dokumente Saïd einer "kontrapunktischen
Lektüre" unterzieht. Er nennt sie eine "voyage in",
eine Reise nach innen, auf der das Verhältnis von Imperialismus und
Kultur und die es unterschiedlich begründenden Philosophien und Diskurse
nicht von außen, sondern von innen analysiert werden. "Beginnen
wir damit, das kulturelle Archiv nicht als univokes Phänomen zu lesen,
sondern kontrapunktisch, mit dem Bewußtsein der Gleichzeitigkeit
der metropolitanischen Geschichte, die erzählt wird, und jener anderen
Geschichten, gegen die (und im Vergleich mit denen) der Herrschaftsdiskurs
agiert." (92)
Die "Reise nach innen" sieht Saïd im nomadisierenden
Migranten, im Traveller als einer Figur kritischer Gegenkultur verkörpert.
Am Beispiel von Salman Rushdies Roman "Midnight's Children"
hat er sie erläutert, einem Text, der "sich aus der befreienden
Phantasie der Unabhängigkeit selbst speist, mit allen ihren vielfältigen
Anomalien und Widersprüchen. Das bewußte Bestreben, in den
Diskurs Europas und des Westens einzutreten, ihn zu verwandeln und ihn
dazu zu bewegen, marginalisierte, verdrängte oder vergessene Geschichten
anzuerkennen, ist ebenso charakteristisch für Rushdies Werk wie für
eine ältere Formation des Schreibens im Widerstand. Diese Arbeit
haben Dutzende von Forschern, Kritikern und Intellektuellen in der peripheren
Welt geleistet; ich nenne sie 'voyage in'." (295)
Mit dieser Figur des Migranten und des Travellers, der auch ein Emigrant
und Exilant sein kann, bringt Saïd seine eigene Biographie zur Sprache.
Er sieht sich selbst als ein Anderer dieser "politischen Figur zwischen
den Sphären, zwischen den Formen, zwischen den Sprachen. Aus dieser
Perspektive sind dann allerdings wirklich alle Dinge quer, ureigen, selten
und wunderlich." (437) So versteht er sein Buch als das Buch eines
Exilanten, dessen Erfahrungen ihm den dezentrierenden, kontrapunktierenden
Blick auf die Verflechtungen zwischen Imperialismus und Kultur vermitteln.
"Aus objektiven Gründen, über die ich keine Verfügungsgewalt
hatte, wuchs ich als Araber mit westlicher Erziehung und Bildung auf.
Seit ich nachdenken kann, habe ich gespürt, daß ich beiden
Welten angehöre, ohne vollständig in der einen oder der anderen
heimisch zu sein. Im Laufe meines Lebens haben sich die Teile der arabischen
Welt, denen ich am meisten verhaftet war, entweder durch Krieg oder Bürgerkriegsumwälzungen
gründlich gewandelt, oder gar zu existieren aufgehört. Über
lange Phasen hinweg bin ich in den Vereinigten Staaten ein Außenseiter
gewesen, insbesondere als sie gegen die (von Vollkommenheit weit entfernten)
Kulturen und Gesellschaften der arabischen Welt in den Krieg zogen und
in schroffen Gegensatz zu ihnen traten. Doch wenn ich 'Exilant' sage,
meine ich nichts Trauriges oder Deprimiertes. Im Gegenteil, die Zugehörigkeit
zu beiden Seiten der imperialen Wasserscheide befähigt einen, sie
leichter zu verstehen. Im übrigen ist New York, wo das Buch geschrieben
wurde, in vieler Hinsicht die Exilstadt par excellence; sie birgt in sich
allerdings auch die von Frantz Fanon beschriebene manichäische Struktur
der Kolonialstadt." (31f.)
Dieser Hinweis auf den autobiographischen Erfahrungshintergrund will
beachtet sein. Er ist mehr als ein Bekenntnis und kennzeichnet eine Einstellung,
die den eigenen Standpunkt der Beobachtung nicht verschweigt und hinter
vorgetäuschter Objektivität zurückstellt. Es ist die Einstellung
einer neuen Kritik, die des "post-colonial critic" [6], die
heute in Amerika von einer ganzen Plejade von aus Ländern der sogenannten
Dritten Welt stammenden, im Kontext sogenannter "westlicher Kultur
und Bildung" sozialisierter und vorwiegend an amerikanischen Universitäten
lehrender Wissenschaftler sowie von Afro- und Asia-Amerikanern repräsentiert
wird. Das Konzept einer "post-kolonialen Kritik" als eine
"voyage in" präzisiert vor allem den alten Begriff des
Anti-Imperialismus, der, als analytisches Instrument gebraucht, verhinderte,
die symbiotischen und komplizenhaften Verflechtungen zwischen Imperialismus
und Kultur wahrzunehmen. Die unter dem Dach einer anti-imperialistischen
Kultur (oft gleichgesetzt mit anti-amerikanisch) erprobten und in Szene
gesetzten Alternativen waren daher zumeist hilflos und sogar kontraproduktiv.
Saïd spricht daher, auf den Entkolonisierungsprozeß in Ländern
der sogenannten Dritten Welt bezogen, von einer Asymmetrie zwischen politischer
Unabhängigkeit und dem Fortbestehen in neuen Formen von kultureller
Kolonisierung. Das erklärt die gleichsam paradoxe Lage, in der sich
der post-koloniale Kritiker befindet wie sie die aus Bengalen stammende
Kritikerin Gayatri Chakravorty Spivak beschrieben hat: "We live
in a post-colonial neo-colonized world."
Saïd versucht nun nicht, diese Lage zu entspannen, sondern - und
das ist das Spannende seiner Studie - sie als Effekt einer geschichtlichen
Struktur zu beschreiben, die im "kulturellen Archiv" des Eurozentrismus
und der davon nicht zu isolierenden Befreiung und Entkolonisierung"
vertextet" ist. Man kann den theoretischen Rahmen seiner Anaylse
nicht besser als er selbst beschreiben:
"Nur wenige kritische Studien haben sich auf die Beziehung zwischen
dem modernen westlichen Imperialismus und seiner Kultur konzentriert,
wobei der Ausschluß dieser symbiotischen Beziehung ein Ergebnis
dieser Beziehung selbst ist (74)...Ich habe versucht, mich einerseits
auf jene Momente einer sich weiterentwickelnden europäischen Kultur
zu konzentrieren, deren sich der Imperialismus bediente, als seine Erfolge
sich beschleunigten, und andererseits zu beschreiben, wie es kam, daß
der imperialistische Europäer nicht wahrhaben konnte oder wollte,
daß er oder sie Imperialist war, und wie es ironischerweise dazu
kam, daß der Nicht-Europäer den Europäer unter denselben
Umständen nur als imperialistisch sah. 'Für den Eingeborenen',
sagt Fanon, 'ist ein europäischer Wert wie Objektivität immer
direkt gegen ihn selbst gerichtet' (302) ... Die Theorie, die ich im vorliegenden
Buch vertrete, ist die, daß die Kultur dabei eine sehr wichtige,
ja unerläßliche Rolle spielte. Im Mittelpunkt der europäischen
Kultur während der vielen Jahrzehnte imperialer Extension stand ein
unbeeindruckter und unerbittlicher Eurozentrismus. Dieser Eurozentrismus
akkumulierte Erfahrungen, Territorien, Völker, Geschichten, er studierte
sie, klassifizierte sie, verifizierte sie und, wie Calder sagt, erlaubte
es 'europäischen Geschäftsleuten, im großen Stil zu planen',
vor allem aber unterwarf er Völker, indem er ihre Identitäten
aus der Kultur und sogar aus der Idee des weißen christlichen Europa
verbannte. Dieser kulturelle Prozeß bildete das verstärkende
Parallelunternehmen zur ökonomischen und politischen Maschinerie
als dem materiellen Zentrum des Imperialismus. Die eurozentrische Kultur
codifizierte und beobachtete alles im Umkreis der nicht-europäischen
oder peripheren Welt und ließ nur wenige Kulturen unangetastet,
wenige Völker und Landschaften unbeansprucht. (302)"
Saïds Darstellung läuft auf eine Revision hegemonialer und
autoritärer Eingriffe in die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der
Kulturen hinaus. Als politische Geographie der Kulturen und ihrer Begriffe
- "Genaugenommen ist der Imperialismus ein Akt geographischer Gewalt,
mittels derer jeder Winkel der Erde erkundet, vermessen und schließlich
unter Kuratell gestellt wird" (305) - versteht Saïd die "Entkolonisierung
des Geistes", für deren Realisierung sein Buch ein kulturpolitisches
Programm entwirft. Er greift diesen Topos der amerikanischen Debatte über
den Multikulturalismus auf, dem der Afrikanist Ngugi wa Thiongo mit seinem
Buch "Decolonising the Mind" (1986) den Namen gegeben hat
und bestimmt seinen geschichtlichen und theoretischen Ort. Das seit dem
Vietnamkrieg schwelende amerikanische Trauma angesichts der verlorenen
Illusionen über die ethischen Werte und Menschheitsideale, in deren
Namen Millionen von Menschen geopfert wurden, hatte in den USA die anhaltende
Debatte über eine Revision des Bildungskanons ausgelöst, in
die Saïd mit dem Thema seines Buches ausdrücklich interveniert.
Es ist ein Versuch, die in dieser Debatte verhärteten Fronten, die
zu so grotesken Konfrontationen wie der zwischen "Abendländlern"
und "Barbaren" geführt hat, durch einen reflexiven Blick
auf die eigene Kultur miteinander ins Gespräch über die gemeinsamen
und globalen Bedingtheiten zu bringen. Die "Paarung von Macht und
Legitimität", die Gefahren einer Telekratie vielstimmiger Gleichschaltung,
wie sie der im Auftrag der UNESCO erarbeitet McBride-Report "Many
Voices, One World" (1980) vorgeführt hatte, bestimmen die Unruhe
in Saïds Analysen. Im Zentrum der den Rahmen bildenden drei geschichtlichen
Formen des Imperialismus, des britischen, des französischen und des
amerikanischen, steht eine Kanonrevisinon anderer Art. Saïds kontrapunktische
Lektüre bezieht vergleichend die Bilder des Eigenen und des Fremden
in zwei Gruppen von literarischen und theoretischen Texten auf die sie
beide prägenden gegensätzlichen Diskurse des Eurozentrismus
und der Entkolonisierung. Auf der einen Seite sind es Texte der Komplizenschaft
in Werken von Joseph Conrad, Charles Dickens, Jane Austen, Ruydard Kipling,
Albert Camus und André Gide. Auf der anderen Seite Texte der Befreiung
und des Widerstands wie die Frantz Fanons, der als "erster Theoretiker
des Anti-Imperialismus" eine leitmotivische Rolle in dem Buch spielt,
Aimé Césaires oder von C. L. R. James mit seinem Buch "The
Black Jacobins" (1938) und W. B. Yeats mit seinem Oeuvre als "einem
großartigen internationalen Wahrzeichen kultureller Dekolonisierung."(322)
Verdis "Aida" liest Saïd als "ein Werk der imperialen
Herrschaft, als Kunst, die sich mit dem Imperium eingelassen hat."
(169)
Statt einer "Politik und Rhetorik der Schuldzuweisung" (79),
die die Debatte über Multikulturalismus leicht in eine Sackgasse
kultureller Ghettoisierung lenkt, könnte man Saïds Studie die
bessere Vision eines Interkulturalismus entnehmen. Denn die "Gefahren
des Chauvinismus und der Xenophobie ('Afrika den Afrikanern') sind sehr
real...Wir haben Beweise für die Verheerungen: Den Nativismus akzeptieren
heißt, die Konsequenzen des Imperialismus akzeptieren, die rassistischen,
religiösen und politischen Scheidungen, die der Imperialismus selbst
durchgesetzt hat. Die historische Welt zugunsten einer Metaphysik von
'Wesenheiten' wie Négritude, Irentum, Islam oder Katholizismus
aufgeben heißt, die Geschichte fahrenzulassen für Parolen,
die hinreichend effizient sind, um Menschen gegeneinander aufzuhetzen."
(310)
Die "Entkolonisierung des Geistes" verschiebt unter Saïds
distanzierendem Blick mit der gewaltsamen Geographie von Zentrum und Peripherie
die Grenzen der Kultur und ihres Begriffs ebenso, wie sie die interkulturelle
Verständigung als eine Aufgabe der Übersetzung, der Kommunikation
und Vermittlung neu orientiert. Keine Kultur ist singulär. Alle Kulturen
sind plural, "hybrid, heterogen, hochdifferenziert und nicht monolithisch."
(30) Das Beharren auf kultureller Identität ist darum als ein Akt
der Negation nur ein erster Schritt zur Befreiung. Identität als
ein "im Grund statischer Begriff, der in der ganzen Ära des
Imperialismus das Kernstück kulturellen Daseins gewesen ist"
(30), behindert die "nomadische, unstet wandernde und anti-narrative
Energie" (369), die Saïd in seinem Buch als Schubkraft der
"Reise nach innen" der Phantasie seiner Leser anheim stellt.
Anmerkungen:
1. Hinrich Fink-Eitel: Die Philosophie und die Wilden.
Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte.
- Hamburg 1994
2. Friedrich Schlegel: Ueber die neuere Geschichte. Vorlesungen
gehalten zu Wien im Jahre 1810. - Wien 1811, S. 501
3. Carl Schmitt: Positionen und Begriffe im Kampf mit
Weimar - Genf - Versailles 1923 - 1939 (1940). - Berlin 1988, S. 213
4. Zit. in Jacques Derrida: Kurs auf das andere Kap -
Europas Identität. In: Liber. Europäische Kulturzeitung. Jg.2,
Nr.3 (Okt.1991), S.12
5. Jacques Derrida, a.a.O., S.12
6. So der Titel eines 1990 erschienenen Buches von
Gayatri Chakravorty Spivak: The Post-Colonial Critic. Interviews, Strategies,
Dialogues.
Druckversion
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Karlheinz Barck
* 1934 Quedlinburg, Deutschland. Seit 1992 Projektleiter für Theorie und Geschichte ästhetischen Denkens am Zentrum für Literaturforschung in Berlin.
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