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Magazin / Das Marco Polo Syndrom

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"Entkolonisierung des Geistes"
als "Reise nach innen"

Notizen nach der Lektüre von Edward W. Saïds Studie "Kultur und Imperialismus"
Von Karlheinz Barck

 

 

"Notre monde vient d'en trouver un autre" (Montaigne, Essais III, 6)

"In an increasingly polycentric world, our task may be to prepare for a world in which nothing is pink on the map."
(Henry Louis Gates Jr., Loose Canons. Notes on the Culture Wars, 1992)

"I think first of all that the western theoretical establishment should take a moratorium on producing a global solution."
(Gayatri Chakravorty Spivak, The post-Colonial Critic, 1990)

Heterologie nannte der französische Historiker Michel de Certeau eine auf der Karte der Wissenschaften erst noch einzutragende "Wissenschaft des/vom Anderen", die die Routen und Räume des Reisens über Europas Grenzen hinaus seit den missionierenden und kolonialistischen Anfängen als Fahrten und Fährten untersucht, auf denen die Projektionen des Eigenen auf das Fremde beschrieben worden sind. Diese neue Wissenschaft hätte freilich die Perspektive der Beobachtung zu verändern und sich der destruktiven Gestehungskosten zu vergewissern, wie sie Montaigne als einer der ersten und der Forschungsreisende Alexander von Humboldt nicht als letzter beschrieben haben, der 1801 während der Reise auf dem Río Magdalena in sein Tagebuch notierte: "Wie unwirthbar macht europäische Grausamkeit die Welt!" Die Auseinandersetzung mit dem Fremden, "kontinuierliche Unterströmung der gesamten europäischen Geistesgeschichte seit dem 16. Jahrhundert" [1], wie sie sich in einer "projektiven Ethnologie" (anders als bei Montaigne und A. v. Humboldt) symptomatisch darstellt, (miß)versteht den Anderen und seine Kultur nur als Projektion der eigenen Kultur. Diese traditionellen Visionen will die von Michel de Certeau geforderte "Wissenschaft des/vom Anderen" korrigieren. Wie in der antiimperialistischen Anthropologie Claude Lévi-Strauss' und in vielen davon inspirierten Forschungen wird der Rahmen eines geschichtsphilosophischen und religiösen Universalismus zerbrochen, weil er die Vielfalt und die Verschiedenheit der Kulturen autoritär begrenzt und der Zerstörung ausliefert. Solange die Kritik an der Praxis der Eroberung und Kolonisierung "fremder" Völker den diese Praxis legitimierenden Denkrahmen nicht grundsätzlich in Frage stellen konnte (oder wollte), fehlten die Voraussetzungen für solche "Wissenschaft des/vom Anderen", war eine kritische Geschichte des Euro- und Ethnozentrismus nicht möglich. Noch für die Aufklärung, die das Prinzip der Kritik und Selbstkritik begründete, war Europa nicht bloß der Mittelpunkt der Welt, sondern der Inbegriff der ganzen Menschheit. Erst mit der europäischen Romantik wendete sich das Blatt, wenngleich in den Grenzen idealisierender und rousseauistischer Vorstellungen vom "guten Wilden", die nicht frei von Paternalismus sind. Friedrich Schlegel, selbst Begründer einer Zeitschrift mit dem Titel "Europa", kritisierte in seinen Wiener Vorlesungen "Über die neuere Geschichte" (1810) zu einer Zeit, als in den spanischen Kolonien die Unabhängigkeitsbewegungen begannen, die europäische Selbstüberschätzung gegenüber Amerika und Asien. "So unabhängig sich Europa wähnt, so sehr es selbst nicht bloß der Mittelpunkt sondern der Inbegriff der ganzen Menschheit zu seyn glaubt, so herrschend im achtzehnten Jahrhundert der europäische Einfluß nebst Amerika auch in Asien geworden ist, mehr fast als unter Alexanders Nachfolgern oder Rom's Cäsaren, so ist dennoch Europa eben durch diese Herrschaft, durch diese außereuropäische Macht vielfach gebunden, und die erste Quelle der Veränderungen, welche hier vorgehn, meistens in den Bewegungen und Erschütterungen entfernter Welttheile zu suchen." [2]

Wie Herder vertrat auch Kant einen ehtno- und eurozentrischen Standpunkt als er z. B. in den "Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen" (1754) den Begriff des "Läppischen" auf rassistische Weise bei den "Negers von Afrika" identifizierte. "Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege." Das sind keine nur nebensächlichen und längst überwundenen Merkmale eines Denkens, das den Rahmen und die Grenzen der Universalität, der Menschheit und der Menschlichkeit durch Exklusivität von einem bestimmten Zentrum aus festlegt und den Anderen marginalisiert und an die Peripherie verweist. Ein europäischer "Wille zur Macht" zersetzt und gefährdet die Axiome der Aufklärung, die Ideen der Demokratie, der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz. Als in den 80er Jahren die Rede vom "Europäischen Haus" und von der kulturellen Identität Europas die Runde machte, deren Rhetorik in den neuen heißen Kriegen in Osteuropa schnell ihre Stunde der Wahrheit erlebte, blieb unerkannt, daß es Hitler war, der in seiner den Austritt Nazideutschlands aus dem Völkerbund rechtfertigenden Rede vor dem Deutschen Reichstag am 7. März 1936 das Bild des "Europäischen Hauses" benutzte, um die germanisch dominierte "Anerkennung der völkischen Substanz" einzufordern. Carl Schmitt hat damals diese Rede kommentiert. "Wenn der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler noch in seiner großen Reichstagsrede vom 7. März 1936 die europäischen Nationen als eine 'Familie' und Europa als ein 'Haus' bezeichnet hat, so handelt es sich hier nicht um irgendeine der auch früher vorkommenden Redewendungen von der 'famille des nations', sondern um die bewußte Fundierung einer neuen europäischen Ordnung auf den Geist der Gemeinschaft und Verwandtschaft der europäischen Völker." [3]

In unseren Tagen hat Jacques Derrida in einer Rede über die europäische Identität (1990) auf die alten und neuen Formen kultureller Machtübernahme aufmerksam gemacht. Er zitierte einen Text des Stuttgarter Kongresses "Kulturraum Europa" (Juni 1988), der in bester Absicht den imperialen und missionarischen Gestus des Eurozentrismus reproduziert. Es heißt darin: "Es gibt keinen politischen Ehrgeiz, der nicht durch eine Eroberung der Geister vorbereitet werden müßte: der Kultur kommt es zu, das Gefühl einer europäischen Einheit und Solidarität durchzusetzen." [4] Die Geographie der Räume und ihrer Gliederungen in Herrschafts- und Einflußgebiete, in Zentrum und Peripherie, Kernzonen und Randzonen (schon sprechen deutsche Politiker wieder von Kerneuropa!), oder (wie manche jetzt zu spekulieren beginnen) in Westeuropa als Kulturraum und Osteuropa als Naturraum, wird von einer globalstrategischen Logik bestimmt. Sie hat den im Namen der Verteidigung kultureller Identität vorgetragenen Widerstand gegen solche zentralistischen und totalisierenden Tendenzen herausgefordert. Das Problem dabei ist, ob die kulturelle Identität in dem durch die Logik der Räume und Einflußsphären vorgegebenen Rahmen definiert wird oder ob jenseits dieser Logik des Kulturimperialismus andere Alternativen denkbar sind. Auf diese diskutable und offene Frage zielen Überlegungen wie die Jacques Derridas, in denen die universalistische und imperiale Zentralperspektive aufgegeben ist zugunsten einer Konfrontation (und einer Prüfung ihrer Entsprechungen) der Selbstbehauptung einer Identität mit dem Universellen. Dann wird man fragen, "ob es also ein Heute Europas jenseits des erschöpften, erschöpfenden, aber nicht aus dem Gedächtnis zu löschenden Programms des Eurozentrismus und des Anti-Eurozentrismus gibt? Gerade indem man über die Neuartigkeit einer kulturellen Herrschaft in Begriffen von geographisch-politischen Feldern nachdenkt, die sich seit der Perestroika, der Zerstörung der Berliner Mauer, seit den sogenannten Demokratisierungsbewegungen und all den Strömungen, die Europa durchqueren, lüsternen Blicken darbieten, muß man die Frage der hegemonischen Zentralität neu erarbeiten, inmitten einer von technisch-wissenschaftlichen oder ökonomischen Daten veränderten Problematik." [5]

Man kann die Studie, die der seit über 20 Jahren an der New Yorker Columbia-University lehrende komparatistische Literaturwissenschaftler Edward W. Saïd 1993 unter dem Titel "Culture and Imperialism" veröffentlichte, als einen spezifischen Beitrag zur weiteren Klärung dieser offenen Frage lesen. Saïd ist mit seinem auch ins deutsche übersetzten Buch "Orientalismus" (1978; dt. 1981 bei Ullstein), das die Erfindung des Orients im europäischen Diskurs der Wissenschaften als ein Problem von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung beschreibt, international bekannt geworden. Sein neues Buch, das man jetzt in der vom Fischer-Verlag edierten Übersetzung von Hans-Horst Henschen mit einem sein Thema präzisierenden Untertitel lesen kann, schließt an diese ältere Studie an: "Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht".

In der gegenwärtigen Debatte, die hierzulande über eine kulturwissenschaftliche Orientierung der sogenannten Geisteswissenschaften geführt wird, könnte das Buch von Saïd den Effekt einer Initialzündung haben, um sich von dem Druck der Altlasten einer engen disziplinären und politisch unverbindlichen Wissenschaftskultur zu befreien, die den Blick für neue Zusammenhänge verstellt und jede kreative Energie lähmt. Saïds Studie repräsentiert nämlich nicht nur die anders motivierte amerikanische Wissenschaftskultur, in der "Cultural Imperialism" heute ein die disziplinären Grenzen der "Humanities", der Humanwissenschaften, wie man präziser in Amerika die Geisteswissenschaften nennt, übergreifendes Thema ist. Diese Denkkultur wird von ihm auch eigens im Blick auf die verschiedenen Disziplinen und Standpunkte dargestellt. Sie ist der Horizont eines kulturellen und wissenschaftlichen Diskurses, auf den sich der Literaturwissenschaftler Saïd mit dem Plädoyer für eine "vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft des Imperialismus" bezieht. Manche Leser, die sich dabei noch an Georg Lukàcs' 1946 im ostberliner Aufbau-Verlag erschienene Studie "Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus" erinnern, werden vielleicht die Stirn runzeln. Ein Vergleich mit Saïds Studie, die einem "Großteil des westlichen Marxismus auf ästhetischem und kulturellem Gebiet" Blindheit für die Probleme des Imperialismus attestiert (369), könnte freilich die Diskussion über die Gründe dafür neu beleben.

Für Saïd ist der Ort, an dem globale Machtkonstellationen sich in den theoretischen Entwicklungen niederschlagen, vorab die Universität als die Institution, wo das Wissen produziert und vermittelt wird. Das große Thema des Buches, die Entkolonisierung des Geistes, verlangt daher als seine Voraussetzung eine Reise vor Ort in das "kulturelle Archiv", dessen Dokumente Saïd einer "kontrapunktischen Lektüre" unterzieht. Er nennt sie eine "voyage in", eine Reise nach innen, auf der das Verhältnis von Imperialismus und Kultur und die es unterschiedlich begründenden Philosophien und Diskurse nicht von außen, sondern von innen analysiert werden. "Beginnen wir damit, das kulturelle Archiv nicht als univokes Phänomen zu lesen, sondern kontrapunktisch, mit dem Bewußtsein der Gleichzeitigkeit der metropolitanischen Geschichte, die erzählt wird, und jener anderen Geschichten, gegen die (und im Vergleich mit denen) der Herrschaftsdiskurs agiert." (92)

Die "Reise nach innen" sieht Saïd im nomadisierenden Migranten, im Traveller als einer Figur kritischer Gegenkultur verkörpert. Am Beispiel von Salman Rushdies Roman "Midnight's Children" hat er sie erläutert, einem Text, der "sich aus der befreienden Phantasie der Unabhängigkeit selbst speist, mit allen ihren vielfältigen Anomalien und Widersprüchen. Das bewußte Bestreben, in den Diskurs Europas und des Westens einzutreten, ihn zu verwandeln und ihn dazu zu bewegen, marginalisierte, verdrängte oder vergessene Geschichten anzuerkennen, ist ebenso charakteristisch für Rushdies Werk wie für eine ältere Formation des Schreibens im Widerstand. Diese Arbeit haben Dutzende von Forschern, Kritikern und Intellektuellen in der peripheren Welt geleistet; ich nenne sie 'voyage in'." (295)

Mit dieser Figur des Migranten und des Travellers, der auch ein Emigrant und Exilant sein kann, bringt Saïd seine eigene Biographie zur Sprache. Er sieht sich selbst als ein Anderer dieser "politischen Figur zwischen den Sphären, zwischen den Formen, zwischen den Sprachen. Aus dieser Perspektive sind dann allerdings wirklich alle Dinge quer, ureigen, selten und wunderlich." (437) So versteht er sein Buch als das Buch eines Exilanten, dessen Erfahrungen ihm den dezentrierenden, kontrapunktierenden Blick auf die Verflechtungen zwischen Imperialismus und Kultur vermitteln.

"Aus objektiven Gründen, über die ich keine Verfügungsgewalt hatte, wuchs ich als Araber mit westlicher Erziehung und Bildung auf. Seit ich nachdenken kann, habe ich gespürt, daß ich beiden Welten angehöre, ohne vollständig in der einen oder der anderen heimisch zu sein. Im Laufe meines Lebens haben sich die Teile der arabischen Welt, denen ich am meisten verhaftet war, entweder durch Krieg oder Bürgerkriegsumwälzungen gründlich gewandelt, oder gar zu existieren aufgehört. Über lange Phasen hinweg bin ich in den Vereinigten Staaten ein Außenseiter gewesen, insbesondere als sie gegen die (von Vollkommenheit weit entfernten) Kulturen und Gesellschaften der arabischen Welt in den Krieg zogen und in schroffen Gegensatz zu ihnen traten. Doch wenn ich 'Exilant' sage, meine ich nichts Trauriges oder Deprimiertes. Im Gegenteil, die Zugehörigkeit zu beiden Seiten der imperialen Wasserscheide befähigt einen, sie leichter zu verstehen. Im übrigen ist New York, wo das Buch geschrieben wurde, in vieler Hinsicht die Exilstadt par excellence; sie birgt in sich allerdings auch die von Frantz Fanon beschriebene manichäische Struktur der Kolonialstadt." (31f.)

Dieser Hinweis auf den autobiographischen Erfahrungshintergrund will beachtet sein. Er ist mehr als ein Bekenntnis und kennzeichnet eine Einstellung, die den eigenen Standpunkt der Beobachtung nicht verschweigt und hinter vorgetäuschter Objektivität zurückstellt. Es ist die Einstellung einer neuen Kritik, die des "post-colonial critic" [6], die heute in Amerika von einer ganzen Plejade von aus Ländern der sogenannten Dritten Welt stammenden, im Kontext sogenannter "westlicher Kultur und Bildung" sozialisierter und vorwiegend an amerikanischen Universitäten lehrender Wissenschaftler sowie von Afro- und Asia-Amerikanern repräsentiert wird. Das Konzept einer "post-kolonialen Kritik" als eine "voyage in" präzisiert vor allem den alten Begriff des Anti-Imperialismus, der, als analytisches Instrument gebraucht, verhinderte, die symbiotischen und komplizenhaften Verflechtungen zwischen Imperialismus und Kultur wahrzunehmen. Die unter dem Dach einer anti-imperialistischen Kultur (oft gleichgesetzt mit anti-amerikanisch) erprobten und in Szene gesetzten Alternativen waren daher zumeist hilflos und sogar kontraproduktiv. Saïd spricht daher, auf den Entkolonisierungsprozeß in Ländern der sogenannten Dritten Welt bezogen, von einer Asymmetrie zwischen politischer Unabhängigkeit und dem Fortbestehen in neuen Formen von kultureller Kolonisierung. Das erklärt die gleichsam paradoxe Lage, in der sich der post-koloniale Kritiker befindet wie sie die aus Bengalen stammende Kritikerin Gayatri Chakravorty Spivak beschrieben hat: "We live in a post-colonial neo-colonized world."

Saïd versucht nun nicht, diese Lage zu entspannen, sondern - und das ist das Spannende seiner Studie - sie als Effekt einer geschichtlichen Struktur zu beschreiben, die im "kulturellen Archiv" des Eurozentrismus und der davon nicht zu isolierenden Befreiung und Entkolonisierung" vertextet" ist. Man kann den theoretischen Rahmen seiner Anaylse nicht besser als er selbst beschreiben:

"Nur wenige kritische Studien haben sich auf die Beziehung zwischen dem modernen westlichen Imperialismus und seiner Kultur konzentriert, wobei der Ausschluß dieser symbiotischen Beziehung ein Ergebnis dieser Beziehung selbst ist (74)...Ich habe versucht, mich einerseits auf jene Momente einer sich weiterentwickelnden europäischen Kultur zu konzentrieren, deren sich der Imperialismus bediente, als seine Erfolge sich beschleunigten, und andererseits zu beschreiben, wie es kam, daß der imperialistische Europäer nicht wahrhaben konnte oder wollte, daß er oder sie Imperialist war, und wie es ironischerweise dazu kam, daß der Nicht-Europäer den Europäer unter denselben Umständen nur als imperialistisch sah. 'Für den Eingeborenen', sagt Fanon, 'ist ein europäischer Wert wie Objektivität immer direkt gegen ihn selbst gerichtet' (302) ... Die Theorie, die ich im vorliegenden Buch vertrete, ist die, daß die Kultur dabei eine sehr wichtige, ja unerläßliche Rolle spielte. Im Mittelpunkt der europäischen Kultur während der vielen Jahrzehnte imperialer Extension stand ein unbeeindruckter und unerbittlicher Eurozentrismus. Dieser Eurozentrismus akkumulierte Erfahrungen, Territorien, Völker, Geschichten, er studierte sie, klassifizierte sie, verifizierte sie und, wie Calder sagt, erlaubte es 'europäischen Geschäftsleuten, im großen Stil zu planen', vor allem aber unterwarf er Völker, indem er ihre Identitäten aus der Kultur und sogar aus der Idee des weißen christlichen Europa verbannte. Dieser kulturelle Prozeß bildete das verstärkende Parallelunternehmen zur ökonomischen und politischen Maschinerie als dem materiellen Zentrum des Imperialismus. Die eurozentrische Kultur codifizierte und beobachtete alles im Umkreis der nicht-europäischen oder peripheren Welt und ließ nur wenige Kulturen unangetastet, wenige Völker und Landschaften unbeansprucht. (302)"

Saïds Darstellung läuft auf eine Revision hegemonialer und autoritärer Eingriffe in die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Kulturen hinaus. Als politische Geographie der Kulturen und ihrer Begriffe - "Genaugenommen ist der Imperialismus ein Akt geographischer Gewalt, mittels derer jeder Winkel der Erde erkundet, vermessen und schließlich unter Kuratell gestellt wird" (305) - versteht Saïd die "Entkolonisierung des Geistes", für deren Realisierung sein Buch ein kulturpolitisches Programm entwirft. Er greift diesen Topos der amerikanischen Debatte über den Multikulturalismus auf, dem der Afrikanist Ngugi wa Thiongo mit seinem Buch "Decolonising the Mind" (1986) den Namen gegeben hat und bestimmt seinen geschichtlichen und theoretischen Ort. Das seit dem Vietnamkrieg schwelende amerikanische Trauma angesichts der verlorenen Illusionen über die ethischen Werte und Menschheitsideale, in deren Namen Millionen von Menschen geopfert wurden, hatte in den USA die anhaltende Debatte über eine Revision des Bildungskanons ausgelöst, in die Saïd mit dem Thema seines Buches ausdrücklich interveniert. Es ist ein Versuch, die in dieser Debatte verhärteten Fronten, die zu so grotesken Konfrontationen wie der zwischen "Abendländlern" und "Barbaren" geführt hat, durch einen reflexiven Blick auf die eigene Kultur miteinander ins Gespräch über die gemeinsamen und globalen Bedingtheiten zu bringen. Die "Paarung von Macht und Legitimität", die Gefahren einer Telekratie vielstimmiger Gleichschaltung, wie sie der im Auftrag der UNESCO erarbeitet McBride-Report "Many Voices, One World" (1980) vorgeführt hatte, bestimmen die Unruhe in Saïds Analysen. Im Zentrum der den Rahmen bildenden drei geschichtlichen Formen des Imperialismus, des britischen, des französischen und des amerikanischen, steht eine Kanonrevisinon anderer Art. Saïds kontrapunktische Lektüre bezieht vergleichend die Bilder des Eigenen und des Fremden in zwei Gruppen von literarischen und theoretischen Texten auf die sie beide prägenden gegensätzlichen Diskurse des Eurozentrismus und der Entkolonisierung. Auf der einen Seite sind es Texte der Komplizenschaft in Werken von Joseph Conrad, Charles Dickens, Jane Austen, Ruydard Kipling, Albert Camus und André Gide. Auf der anderen Seite Texte der Befreiung und des Widerstands wie die Frantz Fanons, der als "erster Theoretiker des Anti-Imperialismus" eine leitmotivische Rolle in dem Buch spielt, Aimé Césaires oder von C. L. R. James mit seinem Buch "The Black Jacobins" (1938) und W. B. Yeats mit seinem Oeuvre als "einem großartigen internationalen Wahrzeichen kultureller Dekolonisierung."(322) Verdis "Aida" liest Saïd als "ein Werk der imperialen Herrschaft, als Kunst, die sich mit dem Imperium eingelassen hat." (169)

Statt einer "Politik und Rhetorik der Schuldzuweisung" (79), die die Debatte über Multikulturalismus leicht in eine Sackgasse kultureller Ghettoisierung lenkt, könnte man Saïds Studie die bessere Vision eines Interkulturalismus entnehmen. Denn die "Gefahren des Chauvinismus und der Xenophobie ('Afrika den Afrikanern') sind sehr real...Wir haben Beweise für die Verheerungen: Den Nativismus akzeptieren heißt, die Konsequenzen des Imperialismus akzeptieren, die rassistischen, religiösen und politischen Scheidungen, die der Imperialismus selbst durchgesetzt hat. Die historische Welt zugunsten einer Metaphysik von 'Wesenheiten' wie Négritude, Irentum, Islam oder Katholizismus aufgeben heißt, die Geschichte fahrenzulassen für Parolen, die hinreichend effizient sind, um Menschen gegeneinander aufzuhetzen." (310)

Die "Entkolonisierung des Geistes" verschiebt unter Saïds distanzierendem Blick mit der gewaltsamen Geographie von Zentrum und Peripherie die Grenzen der Kultur und ihres Begriffs ebenso, wie sie die interkulturelle Verständigung als eine Aufgabe der Übersetzung, der Kommunikation und Vermittlung neu orientiert. Keine Kultur ist singulär. Alle Kulturen sind plural, "hybrid, heterogen, hochdifferenziert und nicht monolithisch." (30) Das Beharren auf kultureller Identität ist darum als ein Akt der Negation nur ein erster Schritt zur Befreiung. Identität als ein "im Grund statischer Begriff, der in der ganzen Ära des Imperialismus das Kernstück kulturellen Daseins gewesen ist" (30), behindert die "nomadische, unstet wandernde und anti-narrative Energie" (369), die Saïd in seinem Buch als Schubkraft der "Reise nach innen" der Phantasie seiner Leser anheim stellt.

Anmerkungen:

1. Hinrich Fink-Eitel: Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte. - Hamburg 1994

2. Friedrich Schlegel: Ueber die neuere Geschichte. Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1810. - Wien 1811, S. 501

3. Carl Schmitt: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf - Versailles 1923 - 1939 (1940). - Berlin 1988, S. 213

4. Zit. in Jacques Derrida: Kurs auf das andere Kap - Europas Identität. In: Liber. Europäische Kulturzeitung. Jg.2, Nr.3 (Okt.1991), S.12

5. Jacques Derrida, a.a.O., S.12

6. So der Titel eines 1990 erschienenen Buches von Gayatri Chakravorty Spivak: The Post-Colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues.

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Karlheinz Barck
* 1934 Quedlinburg, Deutschland. Seit 1992 Projektleiter für Theorie und Geschichte ästhetischen Denkens am Zentrum für Literaturforschung in Berlin.

 

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