Zum Kontext
In der aktuellen Ausstellungspraxis, Theoriediskussion und im Zeitkunstgeschehen
überhaupt gewinnt ein neuer Kunstbegriff an Bedeutung. Der Universalitätsanspruch
einer als (west)europäisch und angloamerikanisch verstandenen westlichen
Kultur wird revidiert, das Paradigma "Mainstream" und "Regionalismen"
bzw. "Zentrum" und "Peripherie" zu Grabe getragen.
Begriffe, wie "Multikultur", "Transkultur", "Interkultur"
oder "Globalkultur", bestimmen zusehends den theoretischen Diskurs
und verweisen auf die Koexistenz und gegenseitige Beeinflussung und Durchdringung
gleichberechtigter Kulturen. An der Schwelle zum 21.Jahrhundert vollzieht
sich ein Wandel in den Kunstauffassungen, in dessen Folge der "Norden"
Kunstäußerungen aus dem "Süden" erheblich größere
Beachtung entgegenbringt. So zumindest lauten jetzt häufiger anzutreffende
Erwartungen. Die Realität des Kunstbetriebs ist davon allerdings
noch weit entfernt.
Immerhin werden Kuratoren großer internationaler Ausstellungen
heutzutage nachdrücklicher nach der Einbeziehung von Künstlern
aus bislang als peripher bewerteten Kulturkreisen gefragt, die in Ansätzen
auch tatsächlich geschieht. Ausstellungen, die "Westkunst"
mit der Kunst des "Südens" mischen, haben seit den achtziger
Jahren Konjunktur.
Gleichzeitig artikuliert sich Skepsis gegenüber dieser neuen Offenheit.
Ihre Kritiker glauben, darin lediglich einen halbherzigen Tribut an "Political
correctness", eine andere Form der Vereinnahmung oder schlichtweg
Exotismus zu erkennen. Zudem existiert die Befürchtung, die Europäer
könnten der "Dritten Welt" nun auch noch ihre eigene Auseinandersetzung
mit dem Eurozentrismus und daraus resultierende Konzepte und Theorien
überstülpen. Alte Konflikte bestehen fort, neue treten zutage.
Nach wie vor reicht im "Norden" die Spannweite der Begegnungen
mit Kunst außereuropäischer Provenienz von absoluter Ignoranz,
bewußter Ausgrenzung oder mehr oder minder sublimer Diffamierung
bis zu einer aggressiven Inbesitzbenahme und der Projektion eigener Wunschvorstellung
auf den idealisierten "Anderen". In ethnozentrischer Einengung
und mit einem puristischen Authentizitätsbegriff wird nach dem "Ursprünglichen"
gesucht. Immer noch tut man sich schwer damit, anzuerkennen, daß
in diesen Kulturen - ebenso wie in der eigenen - vielfältige Elemente
aus anderen Kulturen wirken, ein Geflecht unterschiedlichster Beziehungen
und sich überlagernder Identitäten existiert und individuelle
Ausdrucksformen im permanenten Austausch mit dem internationalen Kunstkontext
entstehen.
Wenn demgegenüber im "Süden" aus strukturellen Ähnlichkeiten
einer postkolonialen Situation das Postulat einer "Dritte-Welt-Kunst"
abgeleitet wird, entspricht das ebensowenig dem vielschichtigen Charakter
der dort hervorgebrachten Kunst und verfestigt eine unsinnige Ghettoisierung.
Angeregt durch eine gleichnamige Arbeit von Flavio Garciandía
hat der kubanische Kunstkritiker Gerardo Mosquera die Schwierigkeiten
bei der Rezeption fremder Kulturen als "Marco Polo Syndrom"
bezeichnet. Marco Polo reiste zwischen verschiedenen Kulturen hin und
her, konnte aber keine wirklichen Brücken herstellen, da man dem,
was er vermitteln wollte, mit Distanz, Desinteresse, Mißtrauen und
Vorurteilen begegnete.
Zur Zielstellung des Symposiums
Im Mittelpunkt des Symposiums stehen theoretische Reflexionen sowie konzeptionelle
Überlegungen zur Ausstellungspraxis, die das Verhältnis des
"Nordens" zur Kunst des "Südens" betreffen. Neben
dem Genannten geht es vor allem um folgende Fragen (um die Diskussion
anzuregen, sind sie polemisch zugespitzt):
- Gibt es zwischen den Kulturen Lateinamerikas, Asiens und Afrikas überhaupt
strukturelle Ähnlichkeiten, wie sie der vereinheitlichende Begriff
"Kunst des Südens" impliziert, oder ist dieser nicht eher
eine exotische Kategorie, in der sich ein hierarchischer Blickwinkel des
"Nordens" fortsetzt?
- Ist das sich im "Norden" abzeichnende Interesse für
diese Kunst tatsächlich Ausdruck eines Paradigmawechsels im Sinne
der so häufig propagierten "neuen Weltordnung" und einer
Revision eurozentristischer Positionen?
- Können wir unseren Kunstbegriff auf die Kunst außereuropäischer
Provenienz anwenden oder sind deren kulturelle Funktionen und Kontexte
nicht so verschieden, daß unweigerlich Mißverständnisse
auftreten müssen? Gibt es ein einheitliches Referenzsystem für
zeitgenössische Kunst?
- Das Verhältnis der Kunst Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zur
europäischen Moderne. Gibt es nur eine Moderne?
- Werden neue Ausstellungskonzepte notwendig, um die Kunst des "Nordens"
und die der außereuropäischen Länder gemeinsam zu präsentieren?
Das Symposium fand parallel zur Ausstellung "Havanna - São
Paulo / Zeitgenössische Kunst aus Lateinamerika" statt. Von
daher lag es nahe, sich auf diese Region als ein Fallbeispiel von universalem
Interesse zu konzentrieren.
Zwischen Lateinamerika und Europa sowie den USA gibt es zahllose Querverbindungen,
Parallelen und Austauschbeziehungen, an denen Wirkungszusammenhänge
zwischen verschiedenen Kulturen und damit Überlagerungen und die
Durchdringung von unterschiedlichen Mentalitäten und Traditionen
exemplarisch deutlich gemacht werden können.
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