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Magazin / Das Marco Polo Syndrom

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Das Marco Polo Syndrom: Konzept
Aus dem Konzept des Symposiums, April 1995

 

 

Zum Kontext

In der aktuellen Ausstellungspraxis, Theoriediskussion und im Zeitkunstgeschehen überhaupt gewinnt ein neuer Kunstbegriff an Bedeutung. Der Universalitätsanspruch einer als (west)europäisch und angloamerikanisch verstandenen westlichen Kultur wird revidiert, das Paradigma "Mainstream" und "Regionalismen" bzw. "Zentrum" und "Peripherie" zu Grabe getragen. Begriffe, wie "Multikultur", "Transkultur", "Interkultur" oder "Globalkultur", bestimmen zusehends den theoretischen Diskurs und verweisen auf die Koexistenz und gegenseitige Beeinflussung und Durchdringung gleichberechtigter Kulturen. An der Schwelle zum 21.Jahrhundert vollzieht sich ein Wandel in den Kunstauffassungen, in dessen Folge der "Norden" Kunstäußerungen aus dem "Süden" erheblich größere Beachtung entgegenbringt. So zumindest lauten jetzt häufiger anzutreffende Erwartungen. Die Realität des Kunstbetriebs ist davon allerdings noch weit entfernt.

Immerhin werden Kuratoren großer internationaler Ausstellungen heutzutage nachdrücklicher nach der Einbeziehung von Künstlern aus bislang als peripher bewerteten Kulturkreisen gefragt, die in Ansätzen auch tatsächlich geschieht. Ausstellungen, die "Westkunst" mit der Kunst des "Südens" mischen, haben seit den achtziger Jahren Konjunktur.

Gleichzeitig artikuliert sich Skepsis gegenüber dieser neuen Offenheit. Ihre Kritiker glauben, darin lediglich einen halbherzigen Tribut an "Political correctness", eine andere Form der Vereinnahmung oder schlichtweg Exotismus zu erkennen. Zudem existiert die Befürchtung, die Europäer könnten der "Dritten Welt" nun auch noch ihre eigene Auseinandersetzung mit dem Eurozentrismus und daraus resultierende Konzepte und Theorien überstülpen. Alte Konflikte bestehen fort, neue treten zutage.

Nach wie vor reicht im "Norden" die Spannweite der Begegnungen mit Kunst außereuropäischer Provenienz von absoluter Ignoranz, bewußter Ausgrenzung oder mehr oder minder sublimer Diffamierung bis zu einer aggressiven Inbesitzbenahme und der Projektion eigener Wunschvorstellung auf den idealisierten "Anderen". In ethnozentrischer Einengung und mit einem puristischen Authentizitätsbegriff wird nach dem "Ursprünglichen" gesucht. Immer noch tut man sich schwer damit, anzuerkennen, daß in diesen Kulturen - ebenso wie in der eigenen - vielfältige Elemente aus anderen Kulturen wirken, ein Geflecht unterschiedlichster Beziehungen und sich überlagernder Identitäten existiert und individuelle Ausdrucksformen im permanenten Austausch mit dem internationalen Kunstkontext entstehen.

Wenn demgegenüber im "Süden" aus strukturellen Ähnlichkeiten einer postkolonialen Situation das Postulat einer "Dritte-Welt-Kunst" abgeleitet wird, entspricht das ebensowenig dem vielschichtigen Charakter der dort hervorgebrachten Kunst und verfestigt eine unsinnige Ghettoisierung.

Angeregt durch eine gleichnamige Arbeit von Flavio Garciandía hat der kubanische Kunstkritiker Gerardo Mosquera die Schwierigkeiten bei der Rezeption fremder Kulturen als "Marco Polo Syndrom" bezeichnet. Marco Polo reiste zwischen verschiedenen Kulturen hin und her, konnte aber keine wirklichen Brücken herstellen, da man dem, was er vermitteln wollte, mit Distanz, Desinteresse, Mißtrauen und Vorurteilen begegnete.

Zur Zielstellung des Symposiums

Im Mittelpunkt des Symposiums stehen theoretische Reflexionen sowie konzeptionelle Überlegungen zur Ausstellungspraxis, die das Verhältnis des "Nordens" zur Kunst des "Südens" betreffen. Neben dem Genannten geht es vor allem um folgende Fragen (um die Diskussion anzuregen, sind sie polemisch zugespitzt):

- Gibt es zwischen den Kulturen Lateinamerikas, Asiens und Afrikas überhaupt strukturelle Ähnlichkeiten, wie sie der vereinheitlichende Begriff "Kunst des Südens" impliziert, oder ist dieser nicht eher eine exotische Kategorie, in der sich ein hierarchischer Blickwinkel des "Nordens" fortsetzt?

- Ist das sich im "Norden" abzeichnende Interesse für diese Kunst tatsächlich Ausdruck eines Paradigmawechsels im Sinne der so häufig propagierten "neuen Weltordnung" und einer Revision eurozentristischer Positionen?

- Können wir unseren Kunstbegriff auf die Kunst außereuropäischer Provenienz anwenden oder sind deren kulturelle Funktionen und Kontexte nicht so verschieden, daß unweigerlich Mißverständnisse auftreten müssen? Gibt es ein einheitliches Referenzsystem für zeitgenössische Kunst?

- Das Verhältnis der Kunst Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zur europäischen Moderne. Gibt es nur eine Moderne?

- Werden neue Ausstellungskonzepte notwendig, um die Kunst des "Nordens" und die der außereuropäischen Länder gemeinsam zu präsentieren?

Das Symposium fand parallel zur Ausstellung "Havanna - São Paulo / Zeitgenössische Kunst aus Lateinamerika" statt. Von daher lag es nahe, sich auf diese Region als ein Fallbeispiel von universalem Interesse zu konzentrieren.

Zwischen Lateinamerika und Europa sowie den USA gibt es zahllose Querverbindungen, Parallelen und Austauschbeziehungen, an denen Wirkungszusammenhänge zwischen verschiedenen Kulturen und damit Überlagerungen und die Durchdringung von unterschiedlichen Mentalitäten und Traditionen exemplarisch deutlich gemacht werden können.

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Das Marco Polo Syndrom

Internat. Symposium
11./12. April 1995

Veranstalter: Haus der Kulturen der Welt, Berlin

Idee, Konzept, Leitung: Gerhard Haupt,
in Zusammenarbeit mit Bernd M. Scherer, HKW

 

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