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"Während die Kräfte für Modernisierung und Integration
von den Kräfte für Desintegration bekämpft werden (z.B.
in der Slowakei und dem Sudan), wird es klar, daß wir einen globalen
Prozeß mitansehen, keine zufälligen Ereignisse," schrieb
der Historiker Paul Kennedy, kurz bevor die Tschechoslowakei sich spaltete.
Vaclav Havel bemerkte in einer Ansprache vor dem World Economic Forum
in der Schweiz 1992: "Im tiefsten Sinn hat das Ende des Kommunismus
eine bedeutende Ära in der Menschengeschichte zu Ende gebracht. Es
hat nicht nicht nur das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert beendet,
sondern die Neuzeit insgesamt." Neuzeit sei "die Ära,
in der es das Ziel war, eine universale Theorie zu formulieren."
Inzwischen scheint es sicher, daß solch vereinheitlichte Theorien
und gemeinsame Nenner kein Ziel mehr sind, weder in der tatsächlichen
Welt, noch in den Bereichen von Wissenschaft und Kunst. Der Zusammenbruch
der Paradigmen, der vor 25 Jahren schon als theoretischer Begriff in Literatur,
Architektur und Kunst Geltung erlangte, ist mittlerweile auch für
das allgemeine Weltgeschehen gültig. Nach einem Jahrhundert Moderne
haben aber viele, die sich der modernen Ästhetik, dem Fortschritt
und der Universalität verbunden fühlen, Schwierigkeiten, damit
umzugehen, daß der Formalismus zur bloßen Formalität
geworden ist. Ein Abgrund tat sich auf, der zu einer Polarisierung der
Haltungen führte.
Da gibt es jene, die intellektuell noch in der alten Ästhetik verharren.
Sie versuchen, die alte Ordnung zu wahren und beklagen sich über
den Verlust von Qualität und einen Mangel an sogenannten universalen
Werten. Sie verstehen das nur als eine Krise der Maßstäbe und
Kriterien. Immer mehr von uns stehen jedoch auf der kartographisch noch
unerfaßten anderen Seites des Abgrunds. Uns ist bewußt, daß
das Glaubensbekenntnis der Moderne voll ideologischer Absoluta, technologischen
Perfektionswahns und utopischen Glaubens an eine künstliche Zukunft
schon lange aufgehört hat, relevant oder glaubhaft zu sein. Überleben
statt Fortschritt lautet das Motto. Die Beschäftigung mit formaler
Originalität und individueller Identität wurde von dringenderen
Anliegen abgelöst, den Versuchen etwa, die alten Mythen des Modernismus
zu entziffern und zu dekonstruieren. Selbstsüchtiger Gedächtnisschwund,
die Ausgrenzungen und Ungerechtigkeiten des Jahrhunderts haben einer universalisierenden
Ästhetik das Wort geredet, die Unterscheidungen ignorierte oder verleugnete.
In den USA macht sich seit mehreren Jahren in der neuen Kunst Abscheu
vor dieser Art von Reinheit und Universalität breit. Es ist kein
Zufall, daß diese Kunst den Verfall, die Furcht vor der Zukunft,
das Entropische und das Innenleben aufgriff, oder sich mit den politischen
Komponenten der ethnischen und sexuellen Identität beschäftigt.
Viele Künstlerinnen in den USA und anderswo glauben, daß sich
Kunst nicht mehr den Luxus ihrer Autonomie leisten kann. Das bedeutet
keine Rückkehr zur politischen Kunst im alten Sinn oder überzogene
"Korrektheit". Man könnte vielleicht sagen, daß
die Kunst wieder einen Sinn für ihre Absichten und Funktionen erlangt,
den sie in der Moderne nach und nach verloren hatte.
Man könnte auch sagen, daß der postmoderne Zustand von den
Theoretikern verdreht wurde durch ihre Anstrengungen, ihn zu einem Stil
zu formen. Sie vergessen gerne, daß die Moderne selbst nie eine
Bewegung oder eine Abfolge von Stilen gewesen ist. Vielmehr war sie ein
kompliziertes, vielfachen Wandlungen unterworfenes Glaubenssystem. An
verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gab es verschiedene Modernismen
und erheblich unterschiedliche Folgen - nicht nur im Verhältnis zu
Imperialismus, Kolonialismus und Verwestlichung, sondern auch zu den schöpferischen
Mißverständissen gegenüber fremden Traditionen. In den
"Abendländern" hat kaum jemand je zur Kenntnis genommen,
daß die Hauptakteure der Moderne fast immer Weiße und Männer
waren.
Seit die Grundlagen des modernen Glaubenssystems bröckeln, ist Identität
eine zentrale Frage in der Kunst und im Leben geworden: nicht die Identität
des einzelnen Menschen, sondern die Identität der Gruppe. Es geht
darum, sich selbst als Teil einer kulturellen Gruppe zu identifizieren.
Schon 1972 bemerkte Octavio Paz, daß wir nicht das Ende der Kunst
erleben, sondern nur das Ende der Idee der modernen Kunst. "Die
Revolte in der Dritten Welt und die Aufstände der ethnischen und
nationalen Minderheiten in den industrialisierten Gesellschaften sind
Aufstände partikularer Gruppen, die von einem anderen Partikularismus
unterdrückt sind, der die Maske der Universalität trägt."
In den achtziger Jahren befaßten sich viele Künstlerinnen
und Künstler in den USA und anderswo mit dem Verlust des Glaubens
an eine Unantastbarkeit der künstlerischen Identität und Signatur.
Eine Strategie, sich mit dieser Identitätskrise zu befassen, bestand
in theoretischen Fragen nach dem "Autoren" und zielte auf
die Verleugnung des schöpferischen Subjekts. Als ob Künstlerinnen
und Künstler dem abgenutzten Begriff der Identität entgehen
könnten durch Umschreibung der Autorschaft, Anonymität oder
stete chamäleonartige Verwandlungen. Ich nenne diese Verleugnung
von Autorschaft und Identität die "Derridasche Lösung":
Sie bewahrt die Kunstwerke, indem sie sie zum "Text" degradiert.
Eine umgekehrte Strategie bedient sich der Simulation, als ob man der
Identität durch die Wiederholung bereits existierender Kunstwerke
entgehen könnte. Diese Strategie, die ich die "Baudrillardsche
Lösung" nenne, verleugnet die Einmaligkeit und weigert sich,
neue Bilder zu schaffen. Dabei bewahrt sie die Idee des zum Mythos gewordenen
Künstlers und seines Meisterwerks.
Beide Taktiken bestätigen das Problem der Postmoderne, indem sie
Masken dekonstruieren und wieder konfigurieren. Doch die Idee der einzelnen
Identität hat ihre Kraft verloren, die Vorstellung von Genie und
Meisterwerk ist verdächtig geworden. Sie sind nicht nur durch Verleugnung
des Autors oder Simulation ersetzt worden, sondern auch durch ein Bewußtsein
der Gruppenidentität. Und diese dritte Strategie der Kunst, welche
die Maske der Universalität ablegt, um die Einzelheiten kultureller
Identität zu untersuchen, versucht eine Lösung anzubieten.
Man könnte sagen, daß soziale Identifikation als Inhalt in
jenen Werken die Formen ersetzt hat, die früher für die Identität
des einzelnen standen. Offen bleibt, ob sich auch diese jüngsten
Formulierungen kultureller Identität zu vereinfachten Masken entwickeln
werden: zu klischeehaften Formeln, die genauso exportfähig werden
wie die Maske des Universalismus.
In den USA, die - vor dem jüngsten Gegenschlag - begonnen hatten,
ihre Identität als wirklich multiethnische und multikulturelle Nation
anzuerkennen, gab es zumindest teilweise in der Kunstszene die Erkenntnis,
daß die Anderen die Mehrheit sind. Künstler haben untersucht,
wie sie sich als afrikanische, asiatische, lateinamerikanische, indianische,
weibliche oder homosexuelle Amerikanerinnen bzw. Amerikaner in den Diskurs
einbringen oder, um es genauer zu sagen, wie sie von ihm abweichen können.
Mit der Verwendung einst dominanter Stilmittel wie Minimalismus und Konzeptualismus
als Gefäß für einen Inhalt, der ihre eigenen ethnischen,
rassischen oder geschlechtlichen Einstellungen und Identitäten ausdrücken
kann, sind sich diese Künstlerinnen und Künstler extrem bewußt
über ihren gesellschaftlichen Kontext und die Konsequenzen, von einer
dominanten Theorie oder einem solchen Stil ausgeschlossen oder ihnen unterworfen
zu sein.
Während von den Mainstream-Künstlern Autorschaft, Einzigartigkeit,
das individualistische abendländische Ich und seine Bindung an die
Konsumgesellschaft in Frage gestellt wurden, findet sich bei Künstlern
aus marginalisierten Minderheiten und den an die Peripherie gedrängten
Teilen der Welt ein hohes Bewußtsein über die Verbindung von
Kunst mit einer Ideologie, die sich auf das gesellschaftliche Gedächtnis
und die Ungerechtigkeiten der Geschichte beruft. Die Künstler in
Asien, Osteuropa, Afrika und Lateinamerika in den USA ebenso haben sich
seit langem mit den Verhältnissen eines herrschenden Anderen beschäftigen
müssen.
Während die kulturellen Besonderheiten und gesellschaftlichen Spezifika
so die Absolutheiten abstrakter Ideologien und Formen ersetzen, kreuzen
sich die posttotalitären, postkolonialen und postmodernen Künste
auf unerwartete Weise. An diesen Kreuzungen ist es nicht mehr möglich,
einfach zu unterscheiden, was "meines" und was "deines"
ist, oder zu folkloristischen Phantasien zurückzukehren. Es reicht
nicht mehr zu fragen, wer was von wem nahm. Vielmehr ist es jetzt nötig
zu fragen, woher welche Bestandteile kommen und warum, ob sie aufgezwungen
oder freiwillig übernommen wurden, wie sie umgeformt und verwandelt
worden sind. Vor allem aber müssen wir bedenken, daß Ähnlichkeiten
nicht unbedingt auf Einflüsse oder Verwandtschaften schließen
lassen. Während künstlerische Anliegen innerhalb von verschiedenen
Kulturen manchmal parallel oder auch kongruent zu verlaufen scheinen,
kann sich die Kunst sehr wohl in unterschiedliche Richtungen bewegen.
Anfang der siebziger Jahre, als viele Künstler und Kritiker in den
westlichen Ländern den Tod der Malerei oder die Apokalypse der Kunst
beschworen, ging es nur um das Ende der Idee der modernen Kunst. Wenn
manche Historiker jetzt über das Ende der Geschichte nachdenken,
können wir folgern, daß es nur um das Ende der modernen Idee
der Geschichte geht.
In einer dezentralisierenden Übergangszeit wie der heutigen sehen
wir zwar Aspekte eines globalen Prozesses mit an, unsere spezifischen
Probleme und Lösungen aber tendieren dazu, lokale zu sein. Während
Künstler in den USA sich politisierenden Werken zuwenden, mißtrauen
jene in Mittel- und Osteuropa - als Folge ihrer oft leidvollen Erfahrungen
mit der offiziellen Politisierung der Kunst - gerade solchen Werken, die
sich an sozialen Angelegenheiten orientieren. Für Künstler in
Westeuropa, wo die Moderne tiefer sitzt, hat der Widerstand gegenüber
sozialen Verbindlichkeiten andere Gründe. Und während der aktuelle
Diskurs in den USA um die Krisen des physischen und sozialen Körpers
geht, ist die Diskussion in Westeuropa viel eher vom Zusammenbruch des
Begriffs der Authentizität bestimmt, vom Verlust der Idee ästhetischer
Autonomie und der Sprachlosigkeit der Kritik. In der Zwischenzeit haben
die Künstler in den von der Moderne ignorierten sogenannten Peripherien
ihre Irritationen über die ehemaligen sogenannten Zentrumen abgelegt
und sich auf ihre eigenen regionalen Angelegenheiten und ihre eigene Stärke
konzentriert. Wir in den westlichen Ländern könnten eines Tages
aufwachen und entdecken, daß unsere eigene Kunst unwesentlich geworden
ist.
Wir haben gerade begonnen einzusehen, daß der von den Theoretikern
der 70er Jahre so leichthin beschworene Paradigmenwechsel viele Verwirrungen
und Gefahren enthält. Es gibt auch heute so viel unvollkommene und
simple Kunst wie in der Moderne.
Der Streit um Dezentralisation und ethnische Identität, der für
die Kunstwelt harmlos zu sein scheint, hat sich in Wirklichkeit als tödliche
Gefahr erwiesen. Entwicklungen, die den Verteidigern der Identitätspolitik
und der Postmoderne bisher als günstig erschienen, haben an Orten
wie dem früheren Jugoslawien oder Ruanda ihr tragisches Potential
entfaltet. Joseph Rothschild, Autor des 1981 erschienenen Buches "Ethno-Politics",
hat seine Meinung bezüglich der Ethnizität als einer Lösung
nationaler Probleme geändert: "Wenn die Slowaken berechtigt
sind, sich aus der Tschechoslowakei zu lösen, warum dann nicht auch
die ungarische Minderheit in der Slowakei? Damit wird ein schreckliches
Szenarium endloser Regression eröffnet," bemerkte er in einem
Interview 1992. Dieses Szenariunm ist vor nicht allzulanger Zeit während
der New Yorker Wahlen aufgeführt worden: Staten Island entschied,
sich von New York zu lösen, und um das zu feiern, schoß der
Bezirksbürgermeister vier Kugeln aus einer Bürgerkriegskanone
in Richtung Manhattan. Obwohl diese Geste eher komisch als bedrohlich
war, lassen die jüngsten Enthüllungen über die weit verbreiteten
weiß-rassistischen Bürger-Milizen die Zersplitterung der Vereinigten
Staaten nicht länger unmöglich erscheinen. In der Kunst, wie
überhaupt, kann die Frage jedoch nicht sein, ob das, was geschieht,
wünschenswert wäre. Vielmehr geht es darum, wie man mit den
unaufhaltsamen Veränderungen umgeht. Keiner der utopisch Modernen
konnte voraussehen, daß das letzte Jahrzehnt des modernen Jahrhunderts
in fundamentalistischem Fanatismus, "ethnischen Säuberungen",
massenhafter Migration, der Zerstörung von Umwelt und Lebensformen
und einer globalen Epidmie enden würde. Die Postmoderne, wenn wir
sie noch so nennen können, ist unumkehrbar geworden.
Während wir uns in einer dezentralisierten, ungefestigten Zwischenzeit
zu einer neuen Ordnung und neuen Entwürfen vortasten, kann die Kunst
etwas aussprechen und vorwegnehmen, kann versuchen, aus den Verstörungen
und dem Unbehagen einen Sinn herzuleiten. Sie kann sich mit der Erkenntnis
auseinandersetzen, daß die Geschichte der Kunst unseres Jahrhunderts
ebenso wie die Geschichte der Zivilisation auf beiden Seiten des alten
Eisernen Vorhanges und auf beiden Seiten des Äquators jede Menge
Gedächtnislücken und Selbsttäuschungen enthält.
Druckversion
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Kim Levin
Kunstkritikerin und Kuratorin. Lebt in New York, USA.
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