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Das Marco Polo Syndrom

Der Andere im Land der Globetrotter
Von Sebastián López


"To confront them is not to represent them but to learn to represent ourselves."
Gayatri C. Spivak

Seit dem 2. Weltkrieg haben sich verschiedene Ausstellungen auf den "Primitivismus" konzentriert, d.h. auf die Aneignung der formalen Sprache und magischen Substanz bestimmter Völker Afrikas, Ozeaniens und Lateinamerikas durch die Pariser Avantgarde am Anfang des Jahrhunderts. Dabei wurde ein historisches Ausstellungsmodell wiederholt, das im Schatten des Kubismus entstand, in den 20er Jahren verallgemeinert wurde und auf dem Prinzip des Kontrastes aufbaut. Das Fehlen einer kritischen Einschätzung des Interesses der Künstler der Avantgarde für die Stammesobjekte wurde damit begründet, daß sie deren Herkunft und Zweck im allgemeinen ohnehin nicht kannten, wie im Begleitheft des MOMA in New York zur Ausstellung "´Primitivism´ in 20th Century Art" zu lesen ist. Es wurde von der Prämisse ausgegangen, das entscheidende Kriterium sei die Form, der einzige mögliche Kontext die Kunst und der Hauptgegenstand der Mensch an sich. Man ging nicht so weit, die Beziehung zwischen dem Tribalen und dem Modernen tiefer zu analysieren, und trennte beide Gruppen von Exponaten, so daß die alleinige Verbindung zwischen ihnen eine "Affinität" von Formen und Farben ist [1].

Die entsprechenden Ausstellungen der letzten Jahre eint die systematische Negation der kulturellen und künstlerischen Vergangenheit der nichteuropäischen Kulturen. Sie werden präsentiert, als wären sie in einer archaischen, paradiesischen und magischen Vergangenheit verankert, wobei vergessen wird, daß diese Vergangenheit eine koloniale war und daß auf die europäische Modernität mit einer eigenen Modernität geantwortet wurde. Da eine ernsthafte Forschung dazu fehlt, blieben die Aktivitäten und die moderne Präsenz dieser Kulturen in ihren Herkunftsländern und auch in Paris vom zweiten Jahrzehnt bis in die 30er Jahre unberücksichtigt. Man ignorierte, wie die Künstler aus den kolonisierten Ländern ihre Verschiedenartigkeit und Beteiligung an der konfliktreichen Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie manifestiert haben.

In Paris hielten sich in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts zahlreiche lateinamerikanische Künstler auf. Man konnte ihre Präsenz trotz der nationalistischen und fremdenfeindlichen Tendenzen des kulturellen französischen Establishments an verschiedenen Fronten erleben [2]. So schloß sich der Mexikaner Diego Rivera dem "lateinischen" Kubismus von Picasso und Juan Gris an und brach das Schweigen des kubistischen Stillebens durch das Getöse der auf dem Marsch befindlichen mexikanischen Revolution. Nicht weniger bedeutend ist die Rolle des Uruguayers Joaquín Torres-García, der um 1929 neue Wege des Konstruktivismus einschlug. Seine intelligente Einbeziehung des Symbolischen, sein Gedanke, daß der universalen und symbolischen Welt der geometrischen Formen auch eine symbolische Welt des "Figuralen" entspricht, brachten ihm die Aufmerksamkeit und Neugier sowohl Van Doesburgs als auch Mondrians ein. Torres-García brachte die Konstruktivisten in Paris zusammen und organisierte "Cercle et Carré", eine Ausstellung und eine Zeitschrift gleichen Namens, die diese Richtung zum ersten Mal massiv präsentierte und der sich Künstler aus der Stadt und aus dem Ausland anschlossen [3]. Auch darf man die Beiträge des Chilenen Matta und des Kubaners Wifredo Lam zum Surrealismus und ihre unterschiedlichen Perspektiven der Kultur der "Anderen", die ihre eigene war, nicht übersehen.

Heute sollten wir hinsichtlich der Beziehung der Avantgarde zum "Primitiven" nicht nur danach fragen, auf welche Weise die Künstler damals damit umgingen, sondern auch darüber nachdenken, was sich hinter dem "Primitivismus", der heute gefördert wird, verbirgt. Während Paris, London, Köln oder Amsterdam dicht von ausländischen Künstlern bevölkert sind, investieren unsere Kuratoren Kraft und Energie, um uns Künstler aus allen Ecken der Welt vorzustellen, und nicht diejenigen, die in den europäischen Ländern selbst leben. Die Faszination der Kunst der Länder der Dritten Welt auf das geschäftigen Personal der Museen erscheint im Lichte der heutigen europäischen Realität als eine Art, Probleme zu umgehen. Die in Europa organisierten Ausstellungen waren ein Ausweg, sich einmal mehr vor der Beschäftigung mit den Problemen in unserem unmittelbaren Umkreis zu drücken. Während uns in Holland in den 80er Jahren der Einzug von neofaschistischen Parteien ins Repräsentantenhaus alarmierte, sehen wir uns in den 90ern mit der bedrückenden Realität konfrontiert, daß es in der Christlich Demokratischen Partei bis hin zur sozialdemokratischen Partei der Arbeiter Stimmen gibt, welche die Fremdenfeindlichkeit fördern, von der wir dachten, sie würde nur in den Parteien der extremen Rechten vorkommen [4]. In den 90er Jahren erscheint die Suche nach dem "Anderen" in Afrika, Asien und Lateinamerika wie ein Alibi, nicht hinzuschauen und sich über das klar zu werden, was wir Vierte Welt genannt haben, d.h. die Präsenz der Dritten in der Ersten Welt.

In der beschleunigten "Entdeckung" anderer künstlerischer Hervorbringungen offenbart sich die Haltung der Kunstwelt Europas zu diesen deutlich. Obwohl sich vor kaum fünf Jahren europäische Museen und Kuratoren auf die Jagd nach der neuen Kunst Kubas begaben, interessieren sie sich für dieselben kubanischen Künstler heutzutage nicht mehr, wenn sie mittlerweile in Europa leben. Wir erleben die Anthropologisierung des zeitgenössischen künstlerischen Schaffens der Dritten Welt, eine neue Sichtweise, aus der die kulturelle Produktion in Begriffen erklärt wird, die den Kriterien einer bestimmte Anthropologie vergleichbar sind. Während man in den 20er Jahren die Gegenstände der anthropologischen Studien ästhetisierte, erleben wir heute eine Anthropologisierung der ästhetischen Objekte. Eines dieser Kriterien ist das der Authentizität, durch das man glaubt, das als Beispiel genannte kubanische Kunstschaffen sei nur im Kontext der Insel authentisch.

Franz Boas und der sogenannte anthropologische Relativismus traten dafür ein, die Objekte in spezifische, lebendige Kontexte zu stellen. Für diese Anthropologen war nicht wichtig, um welche historische Periode es sich handelt. Es ging ihnen um den Moment, in dem der Anthropologe oder Ethnograph den Gegenstand fand. Die Konsequenz ist, daß sowohl die "Kulturen", die uns die anthropologischen Museen präsentieren, als auch die in den Kunstmuseen gezeigten Werke als "eine modifizierte evolutionäre Reihe" oder zerfallen in eine "synchrone ethnographische Gegenwart" ausgestellt werden [5]. Während die anthropologischen Museen die Kontexte der Objekte in Szene gesetzt haben, installieren die Museen für moderne Kunst die Kunstwerke neutral und rekonstruieren die Kontexte im Katalog.

Ein Beispiel dafür finden wir in der anthropologischen Position, in die sich die Kuratoren der Ausstellung U-ABC im Stedelijk Museum in Amsterdam begaben [6]. Als Kriterium für die Authentizität der ausgewählten Kunstwerke galt, daß sie direkt aus Uruguay, Argentinien, Brasilien und Chile kommen mußten. Es gab die explizite Entscheidung, jeden Künstler oder jedes Werk zurückzuweisen, wenn sie nicht unmittelbar aus diesem Kontext stammten. Dieses Auswahlkriterium ist von grundlegender Bedeutung, denn es verdeutlicht nicht nur die Anthropologisierung, auf die ich mich beziehe, sondern auch, wie man die Voraussetzungen manipulieren und negieren kann, durch die das Projekt eigentlich gerechtfertigt wird. Wim Beeren, der damalige Direktor des Museums und Urheber des Ausstellungskonzeptes, schrieb in der Einleitung des Katalogs, er wollte sehen, in welchem Zustand sich die künstlerische Produktion Lateinamerikas zu einem Zeitpunkt befindet, da die Demokratien auf einem Kontinent aufzublühen scheinen, der voller Militärdiktaturen war. Aus seinem Projekt schloß er die Diaspora aus. Das bedeutet aber, die Existenz der Diktaturen und ihre Auswirkungen auf die künstlerische Produktion, die Literatur, die Architektur, die Philosophie, das Filmschaffen etc. zu negieren. Denn in diesem Jahrhundert ist das kulturelle Schaffen Lateinamerikas durch eine fortwährende produktive Bewegung in den Herkunftsländern und in der Diaspora gekennzeichnet, die von den Künstlern gewählt oder in die sie eben gerade als Folge der Militärdiktaturen verschlagen wurden. Um die Willkür dieser Kuratorenentscheidung besser zu verstehen, stelle man sich ein Ausstellungsprojekt um 1949 vor, das nach dem Fall Hitlers die Kunst Deutschlands präsentiert, ohne die massenhafte Emigration deutscher Künstler nach Amerika zu berücksichtigen.

Die anthropologische Strategie bei der Präsentation des zeitgenössischen Kunstschaffens anderer Kontinente erlaubt zugleich, deren möglicherweise subversiven oder "anderen" Charakter zu reduzieren, so daß eine Reihe von Klischees übrigbleibt. Im Falle der Ausstellung U-ABC war das auf dem Plakat deutlich zu sehen: die Buchstaben, die jedes einzelne Land symbolisieren, sind für Uruguay mit Federn exotischer Vögel angefüllt, für Argentinien mit Kakteen, mit Fleisch für Brasilien und mit Fell für Chile.

Ausstellungen von Künstlern nicht-westlicher Kulturen sind in den letzten Jahren von den Museen für moderne Kunst als eine Antwort auf den Multikulturalismus dargestellt worden. Dabei wurde anscheinend oft nicht verstanden, daß sich die Diskussion des Multikulturalismus auf den Zustand der Kultur in Europa und nicht auf den der außerhalb davon liegenden bezieht. Nicht dem multikulturellen Umfeld ihres eigenen Wirkungsbereichs zugehörig, haben sich die Museen der "zapping culture" angeschlossen: man kann einen Blick auf den benachbarten Kanal werfen, um das bewegte und farbige Panorama zu sehen, das dort angeboten wird, um schließlich wieder zu dem Programm zurückzukehren, das man sah, als einem dieses noch nicht zu langweilig geworden war.

Wie Rasheed Araeen treffend aufzeigte, versteht man unter dem Multikulturalismus in der Kunstwelt heute zwei Prozesse, die zutiefst konservativ sind: die Aktualisierung der modernistischen Parameter des Kunstgeschehens, indem man "fremden" Elementen selektiv den Zutritt gewährt; und eine neue Welle des sentimentalen Realismus, der für das Pathos des liberalen Bewußtseins attraktiv ist, weil er die Lebensbedingungen der Unterdrückten ästhetisiert. Diese Haltung, sagt Araeen, "ist besonders lästig, wenn sie die Domestizierung oder Dekonstruktion einschließt, in welcher der ´andere´ immer wieder in der Position eines Defizits dargestellt wird" [7]. Ohne das Konzept der Autonomie, ohne den Bruch mit der Vergangenheit, ohne die Obsession formaler Erfindungen und die Suche nach Originalität, also ohne die Elemente, die als charakteristisch für den Modernismus gelten, kann die künstlerische Produktion der nichteuropäischen Länder leicht als marginal eingestuft werden.

Eine andere Frage wird sich mit den Künstlern befassen müssen, die im Bewußtsein der Strategien, die wir hier zu beschreiben versuchen, ihr Schaffen schon geändert und sich dem Kunstbetrieb angepaßt haben. Sie wollen ihr "Anderssein" ausnutzen, um Zugang zu den Kreisläufen zu erhalten, die ihnen wiederum innerhalb ihrer eigenen Gruppe oder ihrem regionalnationalen Umkreis das Prestige verschaffen, das die als Legitimatoren angesehenen Zentren verleihen. Es ist die Frage danach, wie sie sich "primitivisiert" haben, um so den Ansprüchen des Zentrums zu genügen. Danach, wie heute "andere" Kunst geschaffen wird, um so dem Verlangen der Metropolen nach einem neuen exotischen Nachtisch zu entsprechen.

 

Anmerkungen

1. Hal Foster, "The ´primitive´ Unconscious of Modern Art, or White Skin Black Mask". In: October 34, Fall 1985. Zitiert nach: Recodings. Art Spectacle, Cultural Politics. Bay Press, 1985, S. 183

2. Die fremdenfeindlichen Tendenzen gegen die bildenden Künstler begannen in Paris mit dem 1.Weltkrieg und verstärkten sich in den 20er Jahren. In einem Brief an seinen Galeristen Kahnweiler, der sich in der Schweiz aufhielt, schrieb Juan Gris am 19. April 1915: "You who are absent cannot imagine how every foreigner here is suspected, no matter what his nationality... What I´m telling you is an absolut fact, so I think it is much better for us to carry our correspondance via Madrid, on order not to arose my concierge´s suspitions." In: Lettres, Ed Cooper, S. 26. Zitiert nach K.Silver: Esprit de Corps. Thames and Hudson, London 1989, S. 5 - 6. Torres-García schrieb in seiner Autobiographie: "Für jeden Künstler, der woher auch immer nach Paris kommt, ist es, als käme er aus der Provinz, und er wird behandelt, wie ein Mann vom Mond. Ist das eine Politik? Auf alle Fälle ist es sicher, daß man dort keine anderen Werte als die eigenen anerkennt." J. Torres-García: Historia de mi vida. Paidos, Barcelona 1990, S. 193

3. Die Gruppe konstituierte sich Ende 1929/Anfang 1930. Die Zeitschrift veröffentlichte ab dem 15. März 1930 drei Nummern. An der Ausstellung beteiligten sich Arp, Baumeister, Cahn, Cueto, Kandinsky, Le Corbusier, Leger, Mondrian, Pevsner, Russolo, Schwitters, Taeuber-Arp, Van Rees, Vantongerloo u.a. Auf der von Torres-García mit "Cercle et Carré" gesetzten Grundlage folgten "Abstraction-Creation" und der "Salon de Realite Nouvelle".

4. Die jüngsten Diskussionen über die "Notwendigkeit einer Integration" der in Holland lebenden Ausländer und über illegale Einwanderer sind ein Beispiel dafür. Diese Situation ist nicht nur in den Niederlanden zu finden. Auch in Großbritannien tragen sowohl die rechten wie auch die linken Parteien zu einer reaktionären Klassifikation der Kultur der ethnischen Minderheiten bei. Dazu siehe Rasheed Araeen: From Primitivism to Ethnic Art, in Third Text, Nr. 1, Herbst 1987, S. 6 - 25.

5. "(...) a modified evolutionary serie or dispersed in synchronous ethnographic presents": J. Clifford: On Collecting Art and Culture. - In: The Predicament of Culture. Twentieth Century Ethnography, Literature and Art. Harvard University Press, 1988, S. 228.

6. Katalog U-ABC. Stedelijk Museum, Amsterdam 1989. Siehe Einführung von Wim Beeren und "Turn the map upside down" von Dorin Mignot.

7. "(...) is particulary disturbing when involves domestication or deconstruction in which the ´other´ is repeatedly represented in the position of lack": R. Araeen: Our Bauhaus, Other´s Mudhouse. - In: Third Text, m.6, Spring 1989, London, S. 5.

Gekürzte Fassung des Beitrags zum Symposium "Das Marco Polo Syndrom" im April 1995 im Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Gerhard Haupt

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