|
|
"To confront them is not to represent them but
to learn to represent ourselves."
Gayatri C. Spivak
Seit dem 2. Weltkrieg haben sich verschiedene Ausstellungen auf den "Primitivismus"
konzentriert, d.h. auf die Aneignung der formalen Sprache und magischen
Substanz bestimmter Völker Afrikas, Ozeaniens und Lateinamerikas
durch die Pariser Avantgarde am Anfang des Jahrhunderts. Dabei wurde ein
historisches Ausstellungsmodell wiederholt, das im Schatten des Kubismus
entstand, in den 20er Jahren verallgemeinert wurde und auf dem Prinzip
des Kontrastes aufbaut. Das Fehlen einer kritischen Einschätzung
des Interesses der Künstler der Avantgarde für die Stammesobjekte
wurde damit begründet, daß sie deren Herkunft und Zweck im
allgemeinen ohnehin nicht kannten, wie im Begleitheft des MOMA in New
York zur Ausstellung "´Primitivism´ in 20th Century Art"
zu lesen ist. Es wurde von der Prämisse ausgegangen, das entscheidende
Kriterium sei die Form, der einzige mögliche Kontext die Kunst und
der Hauptgegenstand der Mensch an sich. Man ging nicht so weit, die Beziehung
zwischen dem Tribalen und dem Modernen tiefer zu analysieren, und trennte
beide Gruppen von Exponaten, so daß die alleinige Verbindung zwischen
ihnen eine "Affinität" von Formen und Farben ist [1].
Die entsprechenden Ausstellungen der letzten Jahre eint die systematische
Negation der kulturellen und künstlerischen Vergangenheit der nichteuropäischen
Kulturen. Sie werden präsentiert, als wären sie in einer archaischen,
paradiesischen und magischen Vergangenheit verankert, wobei vergessen
wird, daß diese Vergangenheit eine koloniale war und daß auf
die europäische Modernität mit einer eigenen Modernität
geantwortet wurde. Da eine ernsthafte Forschung dazu fehlt, blieben die
Aktivitäten und die moderne Präsenz dieser Kulturen in ihren
Herkunftsländern und auch in Paris vom zweiten Jahrzehnt bis in die
30er Jahre unberücksichtigt. Man ignorierte, wie die Künstler
aus den kolonisierten Ländern ihre Verschiedenartigkeit und Beteiligung
an der konfliktreichen Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie manifestiert
haben.
In Paris hielten sich in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts zahlreiche
lateinamerikanische Künstler auf. Man konnte ihre Präsenz trotz
der nationalistischen und fremdenfeindlichen Tendenzen des kulturellen
französischen Establishments an verschiedenen Fronten erleben [2].
So schloß sich der Mexikaner Diego Rivera dem "lateinischen"
Kubismus von Picasso und Juan Gris an und brach das Schweigen des kubistischen
Stillebens durch das Getöse der auf dem Marsch befindlichen mexikanischen
Revolution. Nicht weniger bedeutend ist die Rolle des Uruguayers Joaquín
Torres-García, der um 1929 neue Wege des Konstruktivismus einschlug.
Seine intelligente Einbeziehung des Symbolischen, sein Gedanke, daß
der universalen und symbolischen Welt der geometrischen Formen auch eine
symbolische Welt des "Figuralen" entspricht, brachten ihm die
Aufmerksamkeit und Neugier sowohl Van Doesburgs als auch Mondrians ein.
Torres-García brachte die Konstruktivisten in Paris zusammen und
organisierte "Cercle et Carré", eine Ausstellung und
eine Zeitschrift gleichen Namens, die diese Richtung zum ersten Mal massiv
präsentierte und der sich Künstler aus der Stadt und aus dem
Ausland anschlossen [3]. Auch darf man die Beiträge des Chilenen
Matta und des Kubaners Wifredo Lam zum Surrealismus und ihre unterschiedlichen
Perspektiven der Kultur der "Anderen", die ihre eigene war,
nicht übersehen.
Heute sollten wir hinsichtlich der Beziehung der Avantgarde zum "Primitiven"
nicht nur danach fragen, auf welche Weise die Künstler damals damit
umgingen, sondern auch darüber nachdenken, was sich hinter dem "Primitivismus",
der heute gefördert wird, verbirgt. Während Paris, London, Köln
oder Amsterdam dicht von ausländischen Künstlern bevölkert
sind, investieren unsere Kuratoren Kraft und Energie, um uns Künstler
aus allen Ecken der Welt vorzustellen, und nicht diejenigen, die in den
europäischen Ländern selbst leben. Die Faszination der Kunst
der Länder der Dritten Welt auf das geschäftigen Personal der
Museen erscheint im Lichte der heutigen europäischen Realität
als eine Art, Probleme zu umgehen. Die in Europa organisierten Ausstellungen
waren ein Ausweg, sich einmal mehr vor der Beschäftigung mit den
Problemen in unserem unmittelbaren Umkreis zu drücken. Während
uns in Holland in den 80er Jahren der Einzug von neofaschistischen Parteien
ins Repräsentantenhaus alarmierte, sehen wir uns in den 90ern mit
der bedrückenden Realität konfrontiert, daß es in der
Christlich Demokratischen Partei bis hin zur sozialdemokratischen Partei
der Arbeiter Stimmen gibt, welche die Fremdenfeindlichkeit fördern,
von der wir dachten, sie würde nur in den Parteien der extremen Rechten
vorkommen [4]. In den 90er Jahren erscheint die Suche nach dem "Anderen"
in Afrika, Asien und Lateinamerika wie ein Alibi, nicht hinzuschauen und
sich über das klar zu werden, was wir Vierte Welt genannt haben,
d.h. die Präsenz der Dritten in der Ersten Welt.
In der beschleunigten "Entdeckung" anderer künstlerischer
Hervorbringungen offenbart sich die Haltung der Kunstwelt Europas zu diesen
deutlich. Obwohl sich vor kaum fünf Jahren europäische Museen
und Kuratoren auf die Jagd nach der neuen Kunst Kubas begaben, interessieren
sie sich für dieselben kubanischen Künstler heutzutage nicht
mehr, wenn sie mittlerweile in Europa leben. Wir erleben die Anthropologisierung
des zeitgenössischen künstlerischen Schaffens der Dritten Welt,
eine neue Sichtweise, aus der die kulturelle Produktion in Begriffen erklärt
wird, die den Kriterien einer bestimmte Anthropologie vergleichbar sind.
Während man in den 20er Jahren die Gegenstände der anthropologischen
Studien ästhetisierte, erleben wir heute eine Anthropologisierung
der ästhetischen Objekte. Eines dieser Kriterien ist das der Authentizität,
durch das man glaubt, das als Beispiel genannte kubanische Kunstschaffen
sei nur im Kontext der Insel authentisch.
Franz Boas und der sogenannte anthropologische Relativismus traten dafür
ein, die Objekte in spezifische, lebendige Kontexte zu stellen. Für
diese Anthropologen war nicht wichtig, um welche historische Periode es
sich handelt. Es ging ihnen um den Moment, in dem der Anthropologe oder
Ethnograph den Gegenstand fand. Die Konsequenz ist, daß sowohl die
"Kulturen", die uns die anthropologischen Museen präsentieren,
als auch die in den Kunstmuseen gezeigten Werke als "eine modifizierte
evolutionäre Reihe" oder zerfallen in eine "synchrone ethnographische
Gegenwart" ausgestellt werden [5]. Während die anthropologischen
Museen die Kontexte der Objekte in Szene gesetzt haben, installieren die
Museen für moderne Kunst die Kunstwerke neutral und rekonstruieren
die Kontexte im Katalog.
Ein Beispiel dafür finden wir in der anthropologischen Position,
in die sich die Kuratoren der Ausstellung U-ABC im Stedelijk Museum in
Amsterdam begaben [6]. Als Kriterium für die Authentizität der
ausgewählten Kunstwerke galt, daß sie direkt aus Uruguay, Argentinien,
Brasilien und Chile kommen mußten. Es gab die explizite Entscheidung,
jeden Künstler oder jedes Werk zurückzuweisen, wenn sie nicht
unmittelbar aus diesem Kontext stammten. Dieses Auswahlkriterium ist von
grundlegender Bedeutung, denn es verdeutlicht nicht nur die Anthropologisierung,
auf die ich mich beziehe, sondern auch, wie man die Voraussetzungen manipulieren
und negieren kann, durch die das Projekt eigentlich gerechtfertigt wird.
Wim Beeren, der damalige Direktor des Museums und Urheber des Ausstellungskonzeptes,
schrieb in der Einleitung des Katalogs, er wollte sehen, in welchem Zustand
sich die künstlerische Produktion Lateinamerikas zu einem Zeitpunkt
befindet, da die Demokratien auf einem Kontinent aufzublühen scheinen,
der voller Militärdiktaturen war. Aus seinem Projekt schloß
er die Diaspora aus. Das bedeutet aber, die Existenz der Diktaturen und
ihre Auswirkungen auf die künstlerische Produktion, die Literatur,
die Architektur, die Philosophie, das Filmschaffen etc. zu negieren. Denn
in diesem Jahrhundert ist das kulturelle Schaffen Lateinamerikas durch
eine fortwährende produktive Bewegung in den Herkunftsländern
und in der Diaspora gekennzeichnet, die von den Künstlern gewählt
oder in die sie eben gerade als Folge der Militärdiktaturen verschlagen
wurden. Um die Willkür dieser Kuratorenentscheidung besser zu verstehen,
stelle man sich ein Ausstellungsprojekt um 1949 vor, das nach dem Fall
Hitlers die Kunst Deutschlands präsentiert, ohne die massenhafte
Emigration deutscher Künstler nach Amerika zu berücksichtigen.
Die anthropologische Strategie bei der Präsentation des zeitgenössischen
Kunstschaffens anderer Kontinente erlaubt zugleich, deren möglicherweise
subversiven oder "anderen" Charakter zu reduzieren, so daß
eine Reihe von Klischees übrigbleibt. Im Falle der Ausstellung U-ABC
war das auf dem Plakat deutlich zu sehen: die Buchstaben, die jedes einzelne
Land symbolisieren, sind für Uruguay mit Federn exotischer Vögel
angefüllt, für Argentinien mit Kakteen, mit Fleisch für
Brasilien und mit Fell für Chile.
Ausstellungen von Künstlern nicht-westlicher Kulturen sind in den
letzten Jahren von den Museen für moderne Kunst als eine Antwort
auf den Multikulturalismus dargestellt worden. Dabei wurde anscheinend
oft nicht verstanden, daß sich die Diskussion des Multikulturalismus
auf den Zustand der Kultur in Europa und nicht auf den der außerhalb
davon liegenden bezieht. Nicht dem multikulturellen Umfeld ihres eigenen
Wirkungsbereichs zugehörig, haben sich die Museen der "zapping
culture" angeschlossen: man kann einen Blick auf den benachbarten
Kanal werfen, um das bewegte und farbige Panorama zu sehen, das dort angeboten
wird, um schließlich wieder zu dem Programm zurückzukehren,
das man sah, als einem dieses noch nicht zu langweilig geworden war.
Wie Rasheed Araeen treffend aufzeigte, versteht man unter dem Multikulturalismus
in der Kunstwelt heute zwei Prozesse, die zutiefst konservativ sind: die
Aktualisierung der modernistischen Parameter des Kunstgeschehens, indem
man "fremden" Elementen selektiv den Zutritt gewährt; und
eine neue Welle des sentimentalen Realismus, der für das Pathos des
liberalen Bewußtseins attraktiv ist, weil er die Lebensbedingungen
der Unterdrückten ästhetisiert. Diese Haltung, sagt Araeen,
"ist besonders lästig, wenn sie die Domestizierung oder Dekonstruktion
einschließt, in welcher der ´andere´ immer wieder in
der Position eines Defizits dargestellt wird" [7]. Ohne das Konzept
der Autonomie, ohne den Bruch mit der Vergangenheit, ohne die Obsession
formaler Erfindungen und die Suche nach Originalität, also ohne die
Elemente, die als charakteristisch für den Modernismus gelten, kann
die künstlerische Produktion der nichteuropäischen Länder
leicht als marginal eingestuft werden.
Eine andere Frage wird sich mit den Künstlern befassen müssen,
die im Bewußtsein der Strategien, die wir hier zu beschreiben versuchen,
ihr Schaffen schon geändert und sich dem Kunstbetrieb angepaßt
haben. Sie wollen ihr "Anderssein" ausnutzen, um Zugang zu den
Kreisläufen zu erhalten, die ihnen wiederum innerhalb ihrer eigenen
Gruppe oder ihrem regionalnationalen Umkreis das Prestige verschaffen,
das die als Legitimatoren angesehenen Zentren verleihen. Es ist die Frage
danach, wie sie sich "primitivisiert" haben, um so den Ansprüchen
des Zentrums zu genügen. Danach, wie heute "andere" Kunst
geschaffen wird, um so dem Verlangen der Metropolen nach einem neuen exotischen
Nachtisch zu entsprechen.
Anmerkungen
1. Hal Foster, "The ´primitive´ Unconscious
of Modern Art, or White Skin Black Mask". In: October 34, Fall 1985.
Zitiert nach: Recodings. Art Spectacle, Cultural Politics. Bay Press,
1985, S. 183
2. Die fremdenfeindlichen Tendenzen gegen die bildenden
Künstler begannen in Paris mit dem 1.Weltkrieg und verstärkten
sich in den 20er Jahren. In einem Brief an seinen Galeristen Kahnweiler,
der sich in der Schweiz aufhielt, schrieb Juan Gris am 19. April 1915:
"You who are absent cannot imagine how every foreigner here is suspected,
no matter what his nationality... What I´m telling you is an absolut
fact, so I think it is much better for us to carry our correspondance
via Madrid, on order not to arose my concierge´s suspitions."
In: Lettres, Ed Cooper, S. 26. Zitiert nach K.Silver: Esprit de Corps.
Thames and Hudson, London 1989, S. 5 - 6. Torres-García schrieb
in seiner Autobiographie: "Für jeden Künstler, der woher
auch immer nach Paris kommt, ist es, als käme er aus der Provinz,
und er wird behandelt, wie ein Mann vom Mond. Ist das eine Politik? Auf
alle Fälle ist es sicher, daß man dort keine anderen Werte
als die eigenen anerkennt." J. Torres-García: Historia de
mi vida. Paidos, Barcelona 1990, S. 193
3. Die Gruppe konstituierte sich Ende 1929/Anfang 1930.
Die Zeitschrift veröffentlichte ab dem 15. März 1930 drei Nummern.
An der Ausstellung beteiligten sich Arp, Baumeister, Cahn, Cueto, Kandinsky,
Le Corbusier, Leger, Mondrian, Pevsner, Russolo, Schwitters, Taeuber-Arp,
Van Rees, Vantongerloo u.a. Auf der von Torres-García mit "Cercle
et Carré" gesetzten Grundlage folgten "Abstraction-Creation"
und der "Salon de Realite Nouvelle".
4. Die jüngsten Diskussionen über die "Notwendigkeit
einer Integration" der in Holland lebenden Ausländer und über
illegale Einwanderer sind ein Beispiel dafür. Diese Situation ist
nicht nur in den Niederlanden zu finden. Auch in Großbritannien
tragen sowohl die rechten wie auch die linken Parteien zu einer reaktionären
Klassifikation der Kultur der ethnischen Minderheiten bei. Dazu siehe
Rasheed Araeen: From Primitivism to Ethnic Art, in Third Text, Nr. 1,
Herbst 1987, S. 6 - 25.
5. "(...) a modified evolutionary serie or dispersed
in synchronous ethnographic presents": J. Clifford: On Collecting
Art and Culture. - In: The Predicament of Culture. Twentieth Century Ethnography,
Literature and Art. Harvard University Press, 1988, S. 228.
6. Katalog U-ABC. Stedelijk Museum, Amsterdam 1989. Siehe
Einführung von Wim Beeren und "Turn the map upside down"
von Dorin Mignot.
7. "(...) is particulary disturbing when involves
domestication or deconstruction in which the ´other´ is repeatedly
represented in the position of lack": R. Araeen: Our Bauhaus, Other´s
Mudhouse. - In: Third Text, m.6, Spring 1989, London, S. 5.
Gekürzte Fassung des Beitrags zum Symposium "Das
Marco Polo Syndrom" im April 1995 im Haus der Kulturen der Welt,
Berlin. Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Gerhard Haupt
Druckversion
|
|
Sebastián López
Kunstkritiker und Kurator; geboren in Argentinien, lebt in Amsterdam und London. Seit 2007 Direktor des Iniva, London.
|
|