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Vor nunmehr vierzig Jahren verstand ich eines Tages plötzlich, daß
dasselbe Kunstwerk, das meinen Intentionen als Künstler entspricht,
gleichzeitig ein kommerzieller Gegenstand ist. Ich war noch ein Kunststudent,
und in dieser Zeit lehrte man uns "Kunst" (akademisch und
losgelöst vom realen Leben) und nicht Geschäfte zu machen, und
der Markt war für für mich genauso eine Utopie wie die soziale
Revolution.
Obwohl Verkäufe in weiter Ferne lagen (wie zum Teil noch heute),
hatte ich von dem Moment an, in dem mich diese Erkenntnis wie ein Schlag
traf, eine panische Angst im Hinblick auf den Handel mit meiner Arbeit.
Nicht etwa, daß mich Geld nicht interessierte oder ich mein Werk
für zu "rein" hielt, um es auf den Markt zu bringen.
Es hatte mehr mit einer vagen Ahnung und Mißtrauen hinsichtlich
meiner eigenen Schwächen zu tun - mit so etwas wie Angst vor einer
Beeinträchtigung meiner Fähigkeit, die Dinge zu beurteilen.
In Falle des Verkaufs einer Arbeit würde ich niemals Gewißheit
über die Motivationen haben, aus denen das folgende Werk entsteht.
Wenn ich den mit dem verkauften Werk eingeschlagenen Weg weiterverfolge,
würde ich niemals wirklich wissen, ob dieses gemacht wurde, um es
erneut verkaufen zu können, oder weil die Erkundung es verdiente,
fortgesetzt zu werden.
Leider beschränkte sich das Problem nicht auf meine persönlichen
Grübeleien. Die Dichotomie Kommerz/Kunst hat tatsächlich auch
die Gewißheiten über den Gegenstand selbst beeinträchtigt.
Sie hat Zweifel aufkommen lassen am Respekt, der einem Gegenstand gezollt
wird, bei dem der Grad der authentischen Erfahrung im Verhältnis
zu der durch den Preis hervorgerufenen Einschüchterung stand, und
letztlich auch über die Ursachen der Fetischismen, durch welche der
Geschmack, die Sammlungen und die Museen bestimmt sind.
Als Student weitete sich die Wahrnehmung dieser Verunreinigungen auf
komplexere Situationen aus. Zum Beispiel auf die Tatsache, daß die
indikativen Zeichen einer Identität ein extrem kurzes Leben haben,
nach welchem sie als Stereotypen dahinscheiden. Das war die Wahrnehmung,
die sich mir auf kleiner Skala erschloß, als ich das sich wiederholende
Werk der letzten Jahre Chagalls sah. Im größeren Rahmen, und
schon als Erwachsener, war das deutliche Beispiel durch eine bestimmte
lateinamerikanische Kunst gegeben, die in den achtziger Jahren kulminierte.
Im Falle Chagalls war die Stereotypisierung eine Konsequenz des Verlustes
seiner kreativen Fähigkeiten. Im zweiten Fall war es die Konsequenz
eines von außen aufgezwungenen Prozesses der Generalisierung. In
beiden Fallen handelt es sich um ein Produkt des Marktes.
In den achtziger Jahren wandte sich die lateinamerikanische Kunst dem
lokalen Kunsthandwerk zu. Die Keramik, die Textilkunst, das Rustikale
(die Verwendung von Ton, Stroh, Steinen und Wegwerfmaterialien) waren
dabei, den identifikatorischen Stempel zu ersetzen, den man der Kunst
bis dahin mit dem magischen Realismus aufgedrückt hatte. Der Wechsel
kam durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren zustande. Auf der
einen Seite gab es die Ideen (mehr als die Werke selbst) der "arte
povera", oder zumindest die fruchtbaren Vorstellungen, die der Name
weckte. Andererseits gab es das Bewußtsein des Verhältnisses
Zentrum/Peripherie in der Kunst. Nach den in den zurückliegenden
Jahrzehnten verlorenen Schlachten auf politischem Gebiet blieb der Versuch,
den Kampf auf künstlerische Weise fortzusetzen. Schließlich
erneuerte sich in dieser Zeit ein Interesse an der Suche nach den kulturell-nationalen
oder kontinentalen Wurzeln.
Was als eine kollektive Suche nach Identität begann, wurde vom internationalen
Markt schnell als eine bereits verwirklichte Identität absorbiert.
Was lediglich ein Versuchsprozeß war, wurde in einer Form eingefroren.
Es war ein intelligentes Manöver, weil das, was als eine Antwort
auf eine lokale Notwendigkeit aufgekommen war, somit als separate Kategorie
in den Markt eingefügt werden konnte. Es handelte sich nicht um Konkurrenzkategorie
und war trotzdem zu vermarkten. Und besser noch, es entsprach einer ästhetik,
die durch die Ausstellung "Primitivism in 20th Century Art"
im Museum of Modern Art in New York 1984 abgesichert worden war.
Der Prozeß der Festschreibung von Stereotypen gewann in den letzten
Jahren an Komplexität. Mit einem neuen Netz von wirtschaftlich starken
lokalen Galerien und einem Wuchern von Kunstmessen in Lateinamerika hörte
der internationale Markt auf, nur von weitem zu agieren, und überlagerte
die Peripherie. Die Rückkoppelung der Umwandlung der Identität
in ein Stereotyp geschah noch unmittelbarer, als in dem stärker polarisierten
System der Vergangenheit.
Der übergang von Identität in Stereotyp ist leider irreversibel.
Im dem Moment, in welchem der Künstler, der sich um eine Kunst der
Identität, der Gemeinschaft oder des Regionalistischen bemüht,
kommerzialisiert wird, wird seine Kunst stereotyp und verliert ihre anfängliche
kommunikative, kollektive Kraft. Die künstlerischen Mittel, auf denen
sein Werk aufbaut, verlieren an Effektivität und müssen abgelegt
werden, um neuen Mitteln Platz zu machen, oder sie müssen auf solche
Weise reappropriiert werden, daß der Stereotyp wieder aufgefrischt
und nützlich wird. Die Reappropriation ist schwierig und braucht
im allgemeinen relativ lange Zeit (der Stereotyp muß als solcher
und in seinen de-internalisierten Elementen identifizierbar sein).
Eines der möglichen, unmittelbareren und effektiveren Vehikel dieser
Reappropriation sind der Humor und die Ironie, die - wenn sie den Prozeß
herausstellen - die Türen für eine Wiederverwendung bestimmter
Mittel öffnen. Der kolumbianische Künstler Nadín Ospina
versuchte das Problem zu lösen, indem er präkolumbische Versionen
der Simpson-Familie schuf. Die Plastiken sind von professionellen Fälschern
archäologischer Stücke auf so hinreichend präzise Art hergestellt
worden, daß sie die kulturellen Schemata der Archäologen in
künftigen Jahrhunderten durcheinanderbringen können. Eine Ausstellung
von drei lateinamerikanischen Künstlern - José Bedia, Carlos
Capelán und Saint Clair Cemin - bot vor kurzem ein Beispiel, bei
dem statt des Werkes die public relations genutzt wurden. Die Künstler,
die sich der beschriebenen Dynamik bewußt sind, schrieben ein sardonisches
Pressekommuniqué, in welchem sie erklärten:
"Nach langen Diskussionen und Selbstanalysen sind wir zu folgendem
Schluß gelangt: wir sind 'Kunsthandwerker' und deshalb wird unsere
Aktivität als das unserem Beruf eigene 'Kunsthandwerk' wahrgenommen
werden. [...] In diesem Falle erlaubt es uns unsere Natur als Lateinamerikaner,
eine neue kreative Brise in die kunsthandwerkliche Produktion des Westen,
die der 'geistigen Ausstrahlung' und des 'Unberührbaren' entbehrt,
welches heutzutage noch kodifizierter ist als der 'perfekteste' Gegenstand,
einzuführen. [...] Wir bieten Ihnen dieses kunsthandwerkliche Paket
an, das typisch für unsere kannibalistische, arme und periphere,
jedoch absolut persönliche Kondition ist."
Das Interessante an dem Fall war, daß die Ausstellung, die privat
von einem Galeristen parallel zur 46. Biennale von Venedig organisiert
wurde, unter dem Titel "Kunsthandwerk der Peripherie" promoted
wurde. Auch war die Tatsache bemerkenswert, daß der Titel vom Galeristen
und nicht von den Künstlern stammte. So wurde das, was als Ironie
begann, erneut zum Stereoptypen.
Es ist kein Zufall, daß all das - sowohl von seiten des Galeristen
als auch von den Künstlern - im Kontext einer internationalen Biennale
unternommen wurde. Bis Mitte der achtziger Jahre zweifelten diese Biennalen
nicht daran, daß die Kunst einheitlich, universell und mit hegemonialen
Werten ausgestattet ist. Die Gleichungen Kunst-Kommerz und Kunst-Hegemonisierung
waren noch nicht das Ziel ernsthafter Herausforderungen. 1984 wurde die
Erste Biennale von Havanna eröffnet, womit eine neue Serie institutionalisierter
Ausstellungen begann, die - ob nun gut oder schlecht - dazu dienten, der
Kunst der Peripherie einen spezifischen Resonanzraum zu verschaffen.
Aus dem Abstand eines Jahrzehnts betrachtet, war die Biennale von Havanna
die ambitionierteste, experimentellste (hinsichtlich ihrer eigenen Struktur)
und am deutlichsten um die Themen der Marginalität bemühte.
Die Ausstellung der Werke wurde in einen Kontext von Diskussionen und
kulturellen Aktivitäten eingebettet, um ein Forum für den Austausch
von Ideen für die Künstler der Dritten Welt zu schaffen (selbst
wenn man nicht präzisieren konnte, wer dieser Welt angehört
und wer nicht). In ihren fünf Ausgaben, die letzte 1994 [ 1 ], bestätigte
sich die Biennale im internationalen Bereich als der Präsentationsort
für jene Kunst, die im allgemeinen auf dem hegemonialen Markt nicht
sichtbar ist.
Das Projekt der Biennale war nicht rein philanthropisch und idealistisch.
Das Image Kubas wurde effektiv gefördert, und die kubanische Kunst,
die bis dahin dem Rest der Welt praktisch unbekannt war, begann schnell
zu zirkulieren. Der Kunsttourismus wuchs in geometrischer Progression
von Biennale zu Biennale, der aus den USA kommende eingeschlossen, womit
die vielfältigen Verbote des Emargos herausgefordert wurden. Mit
dem wachsenden Erfolg der Biennale begannen die internationalen Galerien
ihre Späher auszusenden. Es war klar, daß die Biennale der
Ort war, um neue Talente zu niedrigen Preisen ausfindig zu machen, ein
Lieferant von verjüngendem Material für den Markt. An einem
der Rundtischgespräche der V. Biennale war genau das der Kommentar,
den der nordamerikanische Galerist Alex Rosenberg abgab, um die Biennale
zu loben. Es war auch ein Rat, den der deutsche Sammler Peter Ludwig ein
paar Jahre zuvor in die Praxis umgesetzt hatte, als er praktisch die gesamte,
in Düsseldorf gezeigte Ausstellung "Kuba o.k." erwarb.
[ 2 ]
Die Gleichungen Kunst-Kommerz und Kunst-Hegemonisierung begannen demzufolge,
die anfänglichen Ideale der Biennale zu verdrängen. Es ist so,
daß der Erfolg der Biennale von Havanna auch ihren Tod symbolisiert
und zu einer Reihe von strukturellen Revisionen verpflichtet. [ 3 ] Das
Dilemma der Biennale läßt sich in der Frage zusammenfassen:
Ist es möglich, Peter Ludwig zu benutzen, ohne von ihm benutzt zu
werden? Sie wurde provoziert durch sein Angebot von Geld, um Werke in
der Biennale rahmen zu lassen, und wiederholt sich für ganz Kuba.
[ 4 ] Abel Prieto, der Präsident des Verbandes der Schriftsteller
und Künstler Kubas, antwortete vor kurzem auf die Ermahnung, Kuba
würde nicht nur an den Kapitalismus, sondern auch an den Neoliberalismus
Konzessionen machen:
"Wir durchlaufen das klassischen Schema des Neoliberalismus in umgekehrter
Richtung: der kubanische Staat assoziiert sich zwar mit dem Auslandskapital,
tut das aber in der Absicht, Gewinne zu erzielen und sie seinem sozialistischen
Prinzip gemäß zu verteilen. Wir bedienen uns gewisser kapitalistischer
Instrumente, um überleben zu können, aber wir berauben den Staat
nicht seiner Fähigkeit, in den ökonomischen Prozesse zu agieren."
[ 5 ]
Somit haben wir, mit all dem vorher genannten, drei Fälle, die das
gleiche Problem deutlich machen, einen individuellen, einen kollektiven
und einen institutionellen (und nationalen). Zu anderen Zeiten, wie zu
meiner eigenen vor vierzig Jahren, stellte sich alles, was man als Korruption
wahrnahm, auf eine manichäistische Weise dar. Die extreme Sicht der
Dinge brachte in meiner Jugend die unendlichen studentischen Streitereien
über das Ziel und die Mittel hervor. Heute ist die Angelegenheit
viel unklarer, komplexer und fragiler geworden: es handelt sich um das
Problem - um das Zitat von Prieto ins Wesentliche zu übersetzen -,
wie "man die Korruption benutzen kann, ohne sich korrumpieren zu
lassen".
Es gibt keine Lösung für das Dilemma und als Konsequenz habe
ich mir eine moralische Struktur zusammengebaut, die ich letztlich "ethischer
Zynismus" nannte. Das Wesentliche an dieser Position basiert auf
dem Gedanken, daß es besser ist, sich wissentlich zu prostituieren,
als dasselbe unbewußt zu tun. Im ersten Falle ist es Strategie,
im zweiten Korruption. Als Strategie nutzt sie mir, eine Grenze kurz vor
ihrem überschreiten zu identifizieren, und deshalb erlaubt sie mir
bis zu einem gewissen Grade die Umkehrbarkeit dieses Aktes. Wenn es sich
aber um Korruption als Produkt des Unbewußten handelt, ist man genötigt,
sich in einer Rhetorik der Rechtfertigung zu ergehen, ohne die Möglichkeit
zu haben, selbst die Verantwortung für die Entscheidung zu übernehmen.
Der Vorzug der Benutzung der Strategie ist, daß sie eine Analyse
der Konditionen erlaubt. Von diesen Konditionen erlaubt sie die Anwendung
derjenigen, die zur Implementierung einer Ideologie führen können,
selbst wenn diese durch die Schritte zu ihrer Instrumentalisierung widersprüchlich
erscheint. Aber dieser Satz, den ich gerade schrieb, ist wirklich fürchterlich,
weil er bestätigt, daß das Ziel die Mittel rechtfertigt. Und
an jenem Tag an dem ich verstand, daß ein Kunstobjekt auch ein kommerzieller
Gegenstand ist, war diese Einsicht aus dem festen Glauben an das Gegenteil
gekommen: daß der Zweck niemals die Mittel rechtfertigen kann.
Die vierzig vergangenen Jahre haben meine Ideologie von damals nicht
ausgelöscht, aber sie haben mir sehr wohl klargemacht, daß
es einen gravierenden Unterschied zwischen meinem utopischen und reinem
Glauben und der Realität gibt, in der wir leben. Mit dem "ethischen
Zynismus" erreichte ich zumindest, mir die Illusion zu fabrizieren,
daß ich meine reinen Ideen beibehalten kann, oder daß ich
sie zumindest identifizieren kann. Diese Reinheit (oder, von einigen anderen
Gesichtspunkten aus, Naivität) schließt verschiedene überzeugungen
ein, die mein Denken noch zu leiten versuchen. Eine ist, daß die
individuelle künstlerische Arbeit nebensächlich und die Kultur
ein kollektiver Prozeß ist. Eine andere besagt, daß die Kommerzialisierung
tatsächlich das ist, was der individualistische Mythos unterstreicht.
Und mehr noch, daß die Kommerzialisierung die Funktionen der nationalen
Künste dahingehend manipuliert und verzerrt, daß sie von ursprünglich
kommunalen Ausdrucksweisen zu chauvinistischen werden. Und schließlich
hat die Kommerzialisierung auf künstlerischem Gebiet die Polarität
Zentrum/Peripherie in ein Machtverhältnis verwandelt.
Diese Feststellungen versetzen mich endgültig in eine ferne Vergangenheit,
aber gerade die letztgenannte erscheint mir außerdem unglaublich
banal. Zu sagen, das Verhältnis Zentrum/Peripherie sei eines der
Macht, ist eine Tautologie, denn genau das Machtverhältnis hat ja
diese Bezeichnung hervorgebracht. Aber was bei den kriegerischen, politischen
und ökonomischen Auseinandersetzungen (und auch bei den künstlerischen,
wenn sie den vorhergenannten dienen) offenkundig ist, erscheint auf dem
losgelöst diskutierten künstlerischen Gebiet weniger offensichtlich.
Es ist weniger offenkundig, weil sich die Diskussionen über Kunst
in erster Linie noch auf die "Qualität" des Gegenstands
konzentrieren, statt auf die Werteskala, die diese Qualität determiniert.
In zweiter Linie, weil sie die Vermutung nahelegen, daß, wenn die
Qualität lesbar, transferierbar und gültig auf einem hegemonischen
Niveau ist, sie es auch in der Peripherie ist, und dieses, in einem geringeren
Grad, auch umgekehrt (in diesem Falle wird die Unlesbarkeit oft einer
fehlenden Qualität zugeschrieben). Zum Dritten unterscheiden die
Diskussionen nicht zwischen kultureller und kommerzieller Funktion. Wenn
man von der Krise in der Kunst spricht, redet man gleichzeitig von der
formalen und kommerziellen Krise auf einem hegemonischen Markt. [ 6 ]
All das dient dazu, ein Bild der Kunst als nicht verunreinigter Aktivität
von universalem, ewigen und absolutem Charakter zu projizieren. So kommt
es, daß die identifikatorischen regionalen oder gemeinschaftlichen
kulturellen Elemente zu formalen, statt zu kommunikativen Attributen werden.
Sie werden zu einem Teil der künstlerischen Verpackung, statt ein
wesenseigenes Element der Kommunikation zu bleiben. Der Werteskala entsprechend,
durch welche die Qualität bestimmt wird, muß die künstlerische
Verpackung ein gewisses Streben nach Ewigkeit voraussetzen. So wie die
lokale Kommunikation temporären, variablen und vorübergehenden
Parametern unterworfen ist, würde der "Regionalismus"
nichts nützen, wenn er zur hegemonischen Kunst nicht zumindest formale
Elemente beitragen würde. Auf diese Weise etabliert sich ein hegemonischer
Semi-Respekt für die periphere Kunst.
Wenn die Effekte dieser Machtbeziehung nur im Akzeptieren einer gewissen
peripheren Kunst im hegemonialen Markt und in der Vermarktung ihrer kommerzialisierbaren
Produkte bestünde, würde das Thema keine größeren
Diskussionen verdienen. Die andere Kunst, die sich kulturell an ihr lokales
Publikum richtet, könnte ihre Funktion ohne Einschränkungen
fortsetzen. Aber die im Zusammenhang mit der Korruption auf individuellem
Niveau diskutierten Gegenüberstellungen sind auch auf kollektiver
Ebene wirksam. Die identifikatorischen Elemente, die einmal vom Markt
als ein formales Element verdaut wurden, kehren an die Peripherie als
ein Reflex zurück, der von einem richtungsweisenden und autoritären
Spiegel ausgesandt wird. Auf kollektiver Ebene verhindert die Aufnahme
gewisser, durch diesen Spiegel "zurückgestrahlter" Mittel,
daß dabei erkannt wird, ob es sich um einen Stereotyp mit einem
kommerziellen Potential handelt oder ob sich eine Identität konsolidiert.
Die denkbaren Möglichkeiten scheinen immer begrenzter und die Kooptationen
und Stereotypisierungen jedes Mal schneller, stärker und leider auch
intelligenter zu sein. Der Neokonservatismus hatte schon den Prestigeverlust
vieler progressiver Positionen erreicht, indem er ihn einfach mit dem
Begriff "poltical correctness" stereotypisierte, einem Ausdruck,
der paradoxerweise von der nordamerikanischen Linken in spöttischer
Absicht kreiert wurde und dem sie selbst als erste zum Opfer fiel. Ein
danach aufgetauchter Begriff, der dieses Mal direkter auf die Kunst angewandt
wird, ist "Kunst der Opfer". Er wurde von der nordamerikanischen
Ballett-Kritikerin Arlene Croce im Zusammenhang mit dem Ballett von Bill
T. Jones "Still/Here" (das sich das Thema AIDS bezieht) popularisiert,
um ihre Abwesenheit bei der Vorstellung zu rechtfertigen. [ 7 ] In ihrem
Artikel versucht Croce, den Voyeurismus von der Kritik, die Klage vom
Ausdruck, die Therapie von der Kreation zu trennen. Auf den ersten Blick
erscheint diese Absicht lobenswert und notwendig. Croce meinte, daß
sie von Jones demagogisch forciert würde, Mitleid mit den AIDS-Opfern
zu haben, die interviewt werden und bei dem Stück mitwirken, wodurch
ein ein kritisches Urteil unmöglich sei.
Croce versuchte implizit, ihre eigene, von Inhalt nicht beeinflußte
Wertskala (und ihre Definition von Kunst) beizubehalten. Sie spricht von
einer "Opfer-Kunst" als einer "politisierten Version
der Erpressung, auf die sich Künstler berufen, selbst so große
wie Chaplin in den Momenten seines größten Selbstmitleids",
und schließt ihren Essay, indem sie sagt, daß "nur der
Narzißmus der neunziger Jahre das Ich an die Stelle des Geistes
setzen konnte". Sechs Monate danach hat der Begriff "Opfer-Kunst"
jedweden politischen oder von den Vertretern irgendeiner mäßig
unterdrückten Minderheit (oder Mehrheit) hervorgebrachten künstlerischen
Ausdruck in den Kontext von Selbstmitleid und sentimentaler Ausbeutung
gestellt. Er hat so effektiv wie nur wenige Werke in der gesamten Kunstgeschichte
eine politische Neuorientierung der Wahrnehmung von Kunst erreicht. Daß
Croce dabei die mögliche Notwendigkeit der Neudefinition von Kunst
übersieht, die beides, Ethik und ästhetik, miteinander in Einklang
bringt, scheint zufällig und sekundär innerhalb ihrer Ideologie.
Einmal mehr sind die Notwendigkeit des Wandels und der Wandel selbst als
"Krise" bezeichnet worden.
Croce versucht innerhalb ihrer Beschränkungen, die klare und separierte
Werteskala beizubehalten. In diesem Sinne repräsentiert sie innerhalb
dessen, was wir eine hegemoniale Ideologie nennen können, eine traditionalistische
und konservative Position. Die Position von Croce ist innerhalb dieser
Hegemonie selbst mit einer viel verwirrenderen Tendenz konfrontiert. Es
ist die paradigmatisch von den Werbekampagnen Benettons repräsentierte
Position. Die theoretisch nicht kompatiblen Werteskalen, Kunst - ideologische
Ursachen im Falle von Croce, und Kunst-Kommerz in Teilen meines Textes
fließen vollkommen in der Werbung Benettons zusammen, die anscheinend
versucht, die "Opfer-Kunst" für gültig zu erklären.
Die Integration ist so erfolgreich, daß ich bisher noch keinen Text
mit einer theoretisch kohärenten Struktur gefunden habe, der das
entschlüsselt, was einige "Benettonismus" nennen, ohne
dabei die Positionen selbst zu zerstören, von denen diese Theorie
ausgehen kann. Glücklicherweise hat Benetton bisher noch nicht die
Idee gehabt, "politische" Künstler zur Produktion von
Plakaten für seine Kampagne einzuladen. An dem Tag, an dem er das
tut, werden diese Künstler Schwierigkeiten haben, das Angebot auf
eine Weise abzulehnen, die sich nicht einer fanatischen, fast religiösen
und nicht argumentativen Negation bedient. Die Versuchung durch die Macht,
die durch eine extreme Verbreitung verliehen wird, zusammen mit dem Fehlen
einer explizit kommerziellen Werbung würde einen - anscheinend -
rechtfertigen, diese Gelegenheit zu nutzen. Aber tatsächlich würde
man in eine Situation geraten, in der man glauben könnte, daß
man die Korruption benutzt, ohne sich korrumpieren zu lassen, und dabei
- zumindest aus dem hier angeführten Blickwinkel - der unbewußten
Prostitution anheimfällt.
Ich kann nur sagen, ich bin mir dessen bewußt, daß der "ethische
Zynismus", auf den ich mich vorher bezog, eine schizophren anmutende
Antwort auf diese ganze Situation ist. Mit dieser Antwort versuche ich,
zwei widersprüchliche Werteskalen scharf voneinander getrennt zu
halten. Es ist (bis jetzt) mein einziges Behelfsmittel in einem Medium,
in dem mir die Schizophrenie im Hinblick auf die Werte einen Zustand der
Implosion erreicht zu haben scheint. In diesem Stadium verdecken die überlagerungen
von verschiedenen Werteskalen all jene Diskrepanzen, die uns früher
mit soviel Eleganz die Manichäismen und die essentiellen Purismen
erlaubt haben. Diese implodierte Schizophrenie, die man eher oberflächlich
und mit einem gewissen Simplizismus nur als Heuchelei registriert, hat
das bewundernswerte Wunder erreicht, die offene und traditionelle Schizophrenie
auf ein höheres ethisches Niveau zu heben.
Abschließend gestehe ich eine romantische Sehnsucht nach der Epoche,
in der man noch fest daran glauben konnte, daß das Ziel niemals
die Mittel rechtfertigt. Nicht daß es damals stimmte, aber zumindest
hatte man den Vorteil, glauben zu können, das es stimmt. Vielleicht
wäre der einzige, uns heute noch bleibende Weg zu einer Utopie, daß
wir unsere Spekulationsfähigkeit darüber beibehalten. Vielleicht
müßte der bescheidene Kampf von heute sich darauf beschränken,
daß wir uns das nicht auch noch nehmen lassen.
Aber es gibt noch eine andere Sache, die offensichtlich ist. Wenn der
simple Gebrauch von so schematischen Termini wie "political correctness"
und "Opfer-Kunst" ausreicht, Ideen zu zerschlagen und in Mißkredit
zu bringen, die wir für komplex und gültig halten, heißt
das, daß es in unseren Standpunkten etwas gibt, das ernsthafter
Korrekturen bedarf. Und bei dieser Aufgabe der Justierung gibt es möglicherweise
keinen Platz für Nostalgie.
Der Text sollte hier eigentlich enden, aber ich kann es nicht dabei belassen.
Ich habe ihn mehreren Freunden zum Lesen gegeben, um zu sehen, was sie
darüber denken. Einer von ihnen, der halb so alt ist wie ich und
sich selbst als Linker definiert, gab drei Kommentare ab. Der erste, halbwegs
niederschmetternde war: "Sehr gut, ohne Lücken, aber sehr sententiözistisch".
Der zweite, halbwegs verwirrende: "Die Kampagne von Benetton finde
ich nicht schlecht". Der dritte und vielleicht anregendste: "Ich
habe keine eindeutige Lösung. Ich glaube, die Ethik ist fundamental,
und denke, daß es im Grunde darum geht, sich immer wieder einzumischen
und wieder zurückzuziehen, sich einmischen und zurückziehen."
Ich habe es nicht geschafft, daraus theoretische Rückschlüsse
zu ziehen, und mußte mich zuallererst von der Entdeckung erholen,
daß der Generationskonflikt micht jetzt tatsächlich erreicht
hat. Ich spreche immer über diesen Konflikt, aber es ist eine Art
Koketterie, ein Getue, dem der Glaube zu Grunde liegt, ich sei noch Teil
der jungen Generation. Aber nachdem ich mich erholt hatte, erwies sich
die dritte Beobachtung als zusehends interessanter. Was mein Freund vorschlug,
war eine Strategie der vielfachen Einmischungen, die immer kurz genug
sind, um nicht absorbiert oder genötigt zu werden, und bei denen
die Existenz einer Relität in ihren eigenen Termini akzeptiert und
nicht idealistisch negiert wird. Das Geheimnis dieses Typen, das er mir
nie verraten hat - vielleicht weil er es selbst gar nicht merkte -, besteht
darin, daß die Realtität in ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten
zu akzeptieren nicht zwangsläufig bedeutet, sich damit abzufinden.
Die sukzessiven Infiltrationen - und spreche theoretisch, weil ich keine
Ahnung habe, wie das praktisch umgesetzt werden kann - haben den Vorteil,
daß keine Zeit bleibt, den Infiltrierenden zu kontaminieren.
Der Generationsunterschied besteht demzufolge in einer gewissen Unbefangenheit
der neuen Generationen und in ihrer möglichen Fähigkeit, diese
beizubehalten. Wenn ich von dem sich "wissentlich Prostituieren"
als einer Schutzfunktion gegen die Korruption rede, schlage ich eine Strategie
vor, die Grunde genommen auch manichäistisch ist. Sie setzt "sich
einmischen" mit "sich prostituieren" gleich und akzeptiert
den Verlust der Unschuld als etwas unvermeidbares, als ein Ereignis von
fast biblischen Dimensionen. Die Strategie der vielfachen und kurzzeitigen
Infiltration scheint die Unschuld nicht anzugreifen.
Es ist interessant, sich noch einmal dem Beispiel Kuba zuzuwenden. Als
am Anfang dieser Dekade die Mehrzahl der bekannten Künstler und auch
die Wirtschaft das Land verlassen hatten, sagte ich ein künstlerisches
Desaster voraus. Das pädagogische Glied zwischen den Ausgebildeten
und den Auszubildenden war fast zerbrochen, die Fördermittel für
die Kunst verschwanden, der Wettbewerb zwischen den Künstlern um
die Etablierung auf einem beschränkten Markt wurde hart. Und dennoch
trat eine neue, fruchtbare, ästhetisch und ethisch kritische Generation
in Erscheinung. Außerdem verkauft sie und obwohl sie verkauft, behält
sie ihren Humor.
Und zum Schluß erscheint alles verwirrt und verwirrend, falsch
erklärt durch unzureichende Schemata, weil wir den Kern des Problems
nicht erfaßt haben. Tatsächlich kämpfen wir alle um die
Macht, den Dingen Bedeutung zu geben. Wie der schwedische Anthropolge
Ulf Hannerz sagt, gibt es den Markt, die Regierung und die "Lebensform",
das heißt, die von den Leuten am Rande von Markt und Regierung hervorgebrachte
Kultur. [ 8 ] Obwohl sie in ihren Werten gelegentlich übereinstimmen,
hat jede einzelne davon ihre eigene Dynamik, den Dingen Bedeutung zu geben.
Diese Tatsache übersehen wir gelegentlich, großenteils weil
der Künstler, der Bedeutungsschaffende par excellence, sich in verschiedenen
Momenten unterschiedlichen Argumenten anschließt, oder besser gesagt,
verschiedene Künstler verpflichten sich unterschiedlichen Dingen.
So können eine Regierung und ein Markt nationalistisch sein, während
die Lebensform und die Künstler regionalistisch sind, oder die Künstler
und der Markt sind global orientiert, während die Regierung und die
Lebensform lokal orientiert sind, oder die Regierung dient einer anderen
Regierung, während die Künstler und die Lebensform sich dagegen
wehren etc. Es gibt viele Austauschmöglichkeiten, aber am Ende bleibt
eine Akkumulation von Bedeutungen, welche die Kultur determinieren, zu
der wir gehören und zu der wir, ob nun gut oder schlecht, alle unseren
Beitrag leisten.
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu analysierte einige dieser
Zusammenhänge in seinem Buch "Das Feld der kulturellen Produktion".
Er beschreibt die autonome Kunst als diejenige, die historisch entstanden
ist aus dem Gegensatz zu der für die bürgerlichen oder dominanten
Werte des 19. Jahrhunderts repräsentativen Kunst einerseits sowie
andererseits zur sozialrevolutionären Kunst, die geschaffen wurde,
um diese Werte zu bekämpfen. Aber auch hier haben wir eine unreine
Triade, bei der sich die Ausrichtungen ständig in Abhängigkeit
von der sozialen Situation und den in der Gesellschaft dominierenden Kräften
verändern.
In Wahrheit führte der rigide und dogmatische Purismus meiner Jugendzeit
unwiderruflich zu einem Elitismus, der von meiner Generation in politischer
Hinsicht leidenschaftlich negiert wurde. Er separierte den Künstler,
selbst den politisierten, von der Realität, von dieser Realität,
die Regierungen, Märkte und Leute einbezieht, um ihm das Monopol
im Prozeß der Bedeutungsbestimmung zu geben.
Die Anerkennung dieser Irrtümer der Vergangenheit impliziert keinen
Wechsel meiner ethischen Position. Vielleicht resultiert daraus in der
Zukunft ein Wechsel der Strategien, obwohl ich das in meinem Falle bezweifle.
Und alle diese Erwägungen erzeugen in mir auch keine größere
Sympathie für die Werbung von Benetton, obgleich ich eine gewisse
Bewunderung gestehe. So ist das einzige, was ich mit all dem erreichen
kann, daß ich mich erneut an den Anfang der Dinge begebe und die
Gewißheit erneuere, daß alles sehr, wirklich sehr kompliziert
ist.
Anmerkungen
1. Als dieser Text geschrieben wurde (1995), war die 5.
Biennale von Havanna die letzte (redaktionelle Anmerkung)
2. "Kuba O.K. - aktuelle Kunst aus Kuba",
Städtische Kunsthalle Düsseldorf, in Zusammenarbeit mit dem
Centro de Desarrollo de las Artes Visuales, Cuba. 1. April bis 13. Mai
1990. Die vom Direktor der Kunsthalle, Jürgen Harten, und dem kubanischen
Künstler und Kurator Antonio Eligio Fernández (Tonel) konzipierte
Ausstellung hat in Deutschland nachhaltige Aufmerksamkeit für die
Arbeit junger kubanischer Künstlern erzeugt. Peter Ludwig hat durch
sie diese Kunst erst kennenlernt und bald darauf zahlreiche Werke angekauft.
(redaktionelle Anmerkung)
3. Die Organisatoren der Biennale sind sich des Problems
bewußt und versuchen, die Größe für die kommende
Biennale zu reorganisieren.
4. Die Benutzung Ludwigs sollte hier eine Metapher sein,
doch sie erlangte eine andere Dimension beim Lesen einer Reportage (La
Maga, Buenos Aires, 24. Mai 1995, S. 36-37), die mit einem Zitat Ludwigs
endete, der im Hinblick auf die von ihm in Havanna nach der V. Biennale
gegründete Stiftung erklärte: "Aber zuerst ist es wichtig,
den kubanischen Künstlern zu helfen. Danach wird der nächste
Schritt sein, auch internationale Kunst in Havanna und in Kuba zu zeigen."
5. Nelson Cesin, "Foro de San Pablo: Los primeros
aportes", Brecha, Montevideo, 25. Mai 1995, Seite 8
6. Bei einem kürzlich veranstalteten Symposium, bei
dem man die "Krise" der heutigen Kunst diskutierte, versuchte
einer der anwesenden Künstler, Carlos Capelán, die Diskussion
neu zu orientieren, indem er äußerte, er fühle sich sehr
wohl und schaffe in aller Ruhe und mit Befriedigung.
7. Arlene Croce, "Discussing the Undiscussable",
The New Yorker, 26. Dezember/ 2. Januar 1995, Seiten 53-60
8. Ulf Hannerz, "Scenarios for Peripheral Cultures".
In: Culture, Globalization and the World System, Seiten 107-128
© Übersetzung aus dem Spanischen: Gerhard Haupt
Druckversion
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Luis Camnitzer
*1937 Lübeck, Deutschland. Aufgewachsen in Uruguay, Staatsbürger des Landes. Lebt in New York, USA. 2002 Teilnehmer der Documenta 11 in Kassel.
weitere Infos & Fotos
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