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Das Fremde, das Andere ist in aller Munde. Gemeint sind damit die Kulturen
der nicht-westlichen Welt. Daß dieser Blickwinkel für das Andere
notwendigerweise auch eine komplementäre, nach innen gerichtete Facette
besitzt, d.h. auch die Rezeption des marginalisierten Eigenen schärft,
wird leicht vergessen. Das Andere ist nämlich zuallererst eine Frage
des eigenen Standpunktes und Standorts - und die haben sich in der westlichen
Zivilisation nach 1968 nachhaltig verändert. Es ist jedenfalls evident,
daß eine ganze Künstlergeneration trotz der um sich greifenden
Globalisierungsprozesse eine ausgeprägte Optik für das Naheliegende,
Alltägliche entwickelt hat, das Fremde im Eigenen erforscht und damit
der von allzu häufiger Fernsicht erzeugten Blindheit eine Exotik
des Alltäglichen, eine von der Nahsicht geprägte Perspektive
entgegenhält.
Kulturökonomie
Die westliche Gesellschaft ist die Heimstätte der Neophilie. Die
Suche nach dem Neuen [1] hat am Ende unseres Jahrtausends eine bislang
nie gekannte Takterhöhung bewirkt. Trends und Moden wechseln häufiger
als die Modellreihen der Autoproduzenten. Dahinter, so könnte man
salopp sagen, steckt die unerhörte Beschleunigungswirkung der globalen
Mediennetze, welche subkulturelle Minibewegungen unmittelbar aufarbeiten
und verstärken. Dahinter stecken aber auch die veritablen Marktinteressen
[2] einer postkulturellen Dienstleistungsgesellschaft, die dem Money-making
eine derart fundamentale Bedeutung beimißt, daß darob inhaltliche
Auseinandersetzungen eliminiert oder instrumentalisiert werden. "Das
Neue", stellt Boris Groys treffend fest, "ist ein kulturökonomisches
Phänomen." [3] Begreift man die Kunstwelt als ökonomisches
System, unterliegt das Zusammenspiel zwischen Kunst, Künstler, Galerie,
Museum, Käufer und Medien denselben Mechanismen wie jede andere Branche.
Und wie jede Branche braucht auch das Kunstsystem immer häufiger
neue Produkte, neue Namen, neue Markenzeichen, neue Trends.
Es mag vielleicht zynisch klingen, tut man die aktuelle Vereinnahmung
der Peripherie als reines Marktphänomen ab. [4] Denn das gestiegene
Interesse am Anderen, am Fremden - begünstigt vom postmodernen, politisch-korrekten
und esoterischen Zeitgeist - besitzt durchaus auch Erkenntnisaspekte,
die den eurozentrischen Ansatz zu unterlaufen suchen, allerdings ohne
dabei das herrschende Gefälle wirklich in Frage zu stellen. So vertreten
einige Ethonologen neuerdings die introspektive Methode, suchen die Innensicht
der nicht-westlichen Völker via expliziter Nichtbeeinflussung zu
ergründen: Der amerikanische Ethnograph Terence Turner stattete beispielsweise
die brasilianischen Kayapo-Indianer mit einfachen Videogeräten aus
und überließ ihnen die Entscheidung, welche Themen sie als
dokumentationswürdig erachten. [5]
Im Vergleich mit der analogen Entwicklung um die letzte Jahrhundertwende,
als die westliche Avantgarde sich außereuropäischer Kulturen
bediente, um zum kunsthistorischen Quantensprung anzusetzen, schneidet
die aktuelle Hinwendung zum Exotischen ziemlich schlecht ab. Spielte damals
der Wunsch nach formalen Neuerungen, nach dem Zerstören des hergebrachten
Formen- und Farbenkanons, nach einer Revolution des perspektivischen und
abbildenden ästhetischen Dogmas eine treibende Rolle, so muß
das jetzige Interesse an der Kultur der südlichen Hemisphäre
als pure marktwirtschafliche Blutauffrischung oder als sentimentale Heimholung
verstoßener Kinder gelesen werden. Gemessen am inhaltlich-formalen
Input, den die "anderen Impulse" ermöglichen könnten,
scheint die substantielle Auseinandersetzung mit dem fremden Kulturgut
nämlich ausgesprochen dürftig zu sein und nach wie vor nach
paternalistischem Muster zu funktionieren.
Es verhält sich jedenfalls so, daß der hiesige Kunstbetrieb
weiterhin nach den internalisierten Mustern der Moderne funktioniert und
die dortige Kunstproduktion entsprechend rezipiert. Die Künstlerinnen
und Künstler der Peripherie sind sich wiederum dessen genau bewußt,
daß in der Regel nur eine Hinwendung zu westlichen Kulturparadigmen
einen Markterfolg nach sich zieht. Westliche Kritiker, Galeristen und
Sammler beurteilen die Kunst der zweiten und dritten Welt nicht anhand
genuiner, authentischer Kriterien. Sie spähen sich, weil sie gar
nicht anders können, im Fremden das Eigene aus [6] - ein Rezeptionsmuster,
das schon die Kolonisatoren bei ihren ersten Kulturkontakten praktizierten,
was beispielsweise dem südamerikanischen Kontinent aufgrund rein
äußerlicher Ähnlichkeiten reihenweise europäische
Ortsnamen bescherte. [7]
Der Vertreter des westlichen Kulturkreises, schreibt Nigel Barley, "konfrontiert
diese Leute [die Eingeborenen] mit einem Selbstbild, das wohl oder übel
von eigenen Vorurteilen und vorgefaßten Ansichten geprägt ist,
weil es ja im Verhältnis zu fremden Völkern so etwas wie eine
objektive Realität nicht gibt." [8] Wird das vom Westler entworfene
Spiegelbild zum Vorbild, so führe das zu einer "verknöcherten
Selbstdarstellung" [9]. Lediglich wenn Selbstbild und Spiegelbild
aneinander gemessen und überprüft werden, wenn daraus eine imagosynthetische
Wechselwirkung [10] resultiert, kann von einem einigermaßen machtfreien
Kulturkontakt gesprochen werden.
Lokalkultur versus Globalkultur
Die stete Erweiterung des Peripheriebegriffs ist nicht nur inhaltlich,
sondern durchaus geographisch zu verstehen. Daß man heute für
ein Flugticket nach Bali genausowenig bezahlt wie vor 20 Jahren für
eine Reise nach Rimini, verdeutlicht dieses Näherrücken auf
touristischer Ebene. Gleichzeitig hat sich das ökonomische Gleichgewicht
zuungunsten der Peripherie verschoben, so daß eine nie gekannte
Migration in Richtung der nördlichen Wirtschaftsmetropolen eingesetzt
hat. Die Verkürzung der realen wie der virtuellen Distanzen hat einerseits
den Blick für das nicht-westliche Fremde, für die "äußere
Peripherie" geschärft, und andererseits auch zu einer Umkehrbewegung,
zur Fokussierung und Neubeurteilung der "inneren Peripherie"
geführt. [11] Die Verschiebung der Distanzen, soviel ist sicher,
hat den Standort aller, insbesondere aber des westlichen Individuums wesentlich
verändert. Das Bewußtwerden vom Fremden im Eigenen wird als
Chance begriffen, die inneren Wertbilder wieder festzumachen, es soll
einen ruhenden Gegenpol zur als Bedrohung empfundenen Beschleunigung bilden,
soll eine Standortbestimmung im multikulturellen Einheitsbrei leisten.
Im Unterschied zu "den frühen Avantgarden dieses Jahrhunderts,
wird das 'Andere' nicht mehr als ein außerhalb der eigenen Zeit
stehendes 'Primitives' aufgefaßt. Das Andere, von dem heute die
Rede ist, ist vielmehr Produkt gegenseitiger Ausschlußprozesse in
den Metropolen selbst." [12]
Das abendländische Individuum hat sich sukzessive vom Eigenen entfernt.
Das Zentrum, die eigene kulturelle Position hat sich zugunsten der fremden
Kulturen verschoben. "Aus der Distanz zur Handlung", resümiert
der Hamburger Ethnologe Fritz W. Kramer folgerichtig, "ergibt sich
die Chance, die Beziehungen zu gewahren, die die anderen hervorbringen."[13]
Wenn das Eigenen zum Anderen wird, besitzt diese Beobachtung auch für
unsere Lebenswelt Gültigkeit. An die Stelle lokal verwurzelter, kultureller
Identitäten sind Bewegungen wie Alltagskultur, Öko-Kultur, Pop-Ästhetik,
Globalkultur [14], Esoterik, Frauenbewußtsein und Medienkultur getreten,
die als implizite Reaktion auf Ideologie- und Identifikationsverluste
gedeutet werden müssen. Diesen neuen, identifikationsstiftenden Phänomenen
ist eine eigentümliche Dynamik eigen: sie oszillieren zwischen lokalem
und globalem Anspruch. Während Pop und Medien auf eine multikulturelle
Rezeption ausgerichtet sind, gleichzeitig lokale Eigenheiten absorbieren
und ihre weltumspannenden Netzwerke ausbauen, kann bei den Ökobewegungen
und in der Alltagskultur das Gegenteil beobachtet werden: Verinnerlichung,
Rückzug, Rückbesinnung auf der einen, neokonservativen Seite
und die Neubeurteilung bzw. Rekontextualisierung von Vergangenem und Auto-Authentischem
auf der progressiven, zukunftsgerichteten Ebene. Im besten Falle, wie
Jürgen Habermas meint, könne daraus eine Kultur entstehen, "die
zusammenführt, ohne Abstände zu tilgen, die verbindet, ohne
Verschiedenes gleichnamig zu machen, die unter Fremden das Gemeinsame
kenntlich macht, aber dem Anderen seine Andersheit beläßt".[15]
Charakteristisch an den vermeintlich gegenläufigen Kulturmodellen
mit lokalem oder globalem Anspruch ist deren paradoxonhaftes, auf Integration
abzielendes Neben- und Miteinander. "Think global, act local"
[16] ist keinesfalls nur eskapistische Werbepoesie. Der Slogan bringt
die Sehnsucht der heutigen Gesellschaft nach einer fruchtbaren, lebenswerten
Synthese von Eigenem und Fremden sinnfällig auf den Punkt - Retro-Ethno,
Jetztzeit-Ethno und Avant-Ethno sind chronologische Kategorisierungen,
in denen dieser pragmatische Utopie-Begriff in der heutigen künstlerischen
Praxis funktioniert. "Es ist", schwärmt Paolo Bianchi vom
aktuellen Zeitgeist, "die Suche nach einer neuen, vielleicht verlorenen
Identität. Es ist die Neuschreibung einer verzerrten Weltgeschichte.
Es ist die Neubenennung von Weltbildern. Wir fungieren als Geburtshelfer
einer neuen Kultur." [17]
Retro-Ethno: Postideologische Identitätsstifter
Noch nicht einmal sechs Jahre sind vergangen, seit mit dem Fall der Berliner
Mauer der Untergang des sozialistischen Regierungssystems eingeläutet
wurde. Das Datum ist insofern von Bedeutung, als es den Wegfall einer
ideologischen Polarisierung markiert, die unser Jahrhundert geprägt
hat wie der Glaube an die Moderne. Daß vornehmlich in den osteuropäischen
Ländern heute mit allen Mitteln eine Identitätsdiskussion geführt
wird, geht insofern direkt auf diesen Ideologieverlust und auf den damit
verbundenen Strukturwandel zurück. Ethnisch-politische Konflikte
à la Jugoslawien oder Tschetschenien markieren die wohl augenfälligste,
schrecklichste und konservativste Form dieser Auseinandersetzung, die
das vormals Eigene mit einem Mal als fremd begreift. Augenfällig
daran ist die Instrumentalisierung ethnischer Stereotypen und aufgewärmter
Ressentiments, die vor dem Hintergrund der Identitätssuche skrupellos
in den Dienst partikulärer Machtinteressen gestellt werden. "Die
Utopie des Anderen", wie Boris Groys folgert, "wird von der
Masse des Trivialen, Abgenutzten und Stereotypen aufgesaugt" [18].
Die zukunfstbezogene Suche nach der eigenen Kultur mit einer Optik, die
sich nach innen und nach rückwärts richtet, ist Thema der Kunstproduktion
vieler osteuropäischer Länder. Dort regieren momentan die postideologischen
Identitässtifter. An der Aperto 93 stellte beispielsweise die rumänische
Künstlergruppe subREAL das Projekt "Draculaland" vor. Die
von der Gruppe praktizierte Analogie vom historischen Mythos des blutsaugenden
Grafen aus Transsylvanien und dem eben erst beendeten Gewaltregime der
Çausescus kommunizierte einerseits die klassischen Stereotypen,
welche der westliche Betrachter unweigerlich mit Rumänien verbindet.
Andererseits markierte die Aktion auch einen höchst kathartischen
Akt an der Grenze von innerer und äußerer Peripherie, einen
Akt, der die eigene Vergangenheit und Mythen nicht ausblenden, sondern
einer möglichen Duplizität der Ereignisse zuvorkommen und der
Zukunft eine Chance einräumen will.
"Das Bedürfnis", so Viktor Misiano, Kurator des russischen
Biennale-Pavillons in Venedig, "eine neue Identität für
ein neues Land zu suchen" [19] sei die vorrangige Aufgabe der ausstellenden
Künstler. Weil sich im Chaos der russischen Jetztzeit noch keine
klare Richtung ausgebildet habe, versuche er, eine prozeßhafte Bewegung
in der Ausstellung zu dokumentieren. Evgeny Asse, Vadim Fishkin und Dmitri
Gutoff haben unter seiner Ägide ein "mutuelles Statement"
erarbeitet, das auf "intellektuelle Auseinandersetzung" [20]
ziele. Kernpunkt der Gruppeninszenierung bildete die Diskussion um den
aktuellen Wiederaufbau der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche. Zwischen
1838 und 1883 im Herzen der russischen Metropole als Zeichen der national-religiösen
Identität erbaut, wurde sie 1931 zerstört, weil am gleichen
Ort den Sowjetpalast [21], das architektonische Symbol der kommunistischen
Hegemonie errichtet werden sollte. "Die Entscheidung der Re-Konstruktion",
so Misiano, "besitzt den Charkater einer historischen Revanche."
[22]] Hinter dem in Venedig mittels Collagen, Videos und Installationen
visualisierten künstlerischen Forschungsprozeß steckt die essentielle
Erkenntnis, daß die Geschichte, die Tradition - so schmerzhaft und
beschämend sie auch sein mag - Teil der kollektiven wie der indivduellen
Identität ist, welche die Gegenwart prägt. Rekontextualisierende
Spurensicherung [23] mit zukunftsgerichtetem Anspruch an der inneren Peripherie
praktiziert, transzendiert das Alte zum Neuen, das Fremde zum Eigenen.
"In meinem Studio", erinnert sich Ilya Kabakov, "entwarf
ich viele Pläne für Installationen. Diese waren sehr genau gezeichnet
in der Hoffnung, daß Archäologen sie in einer unbestimmten
Zeit finden und rekonstruieren würden. Es war wie ein Brief, der
in die Zukunft gesandt wird. Darum mußte er perfekt sein, für
die Menschen, welche einer anderen Zivilisation angehören, und an
welche diese Briefe und Ideen aus dem Untergrund gerichtet waren."
[24] Kabakovs installatives Arbeiten operiert systematisch mit der Methode
der rekontextualisierenden Spurensicherung an der inneren Peripherie.
"C'est ici que nous vivons" (Hier ist der Ort, wo wir leben),
der Titel seiner jüngsten Arbeit, besitzt in diesem Kontext programmatischen
Charakter. Die Installation umfaßt eine rechteckige Wagenburg, die
aus einem guten Dutzend "Rollerheime" gebildet wird. In diesen
mobilen Behausungen für Bauarbeiter hat Kabakov die Tristesse und
Ärmlichkeit des real existierenden Sozialismus rekonstruiert: durchgesessene
Fauteuils, abgewetzte Kommoden, glanzlose Buffets, sentimentale Erinnerungsphotos
- ein kritischer und zugleich optimistischer Rückblick, weil auf
dem Komposthaufen der Geschichte, so die von Kabakov via Baustellenplakat
angekündigte Vision, die "Stadt der Zukunft" heranwächst.
Jetztzeit-Ethno: Die Exotik des Alltäglichen
Auch wenn die Exotik des Alltäglichen ohne das gesteigerte Augenmerk
für Massenkonsumgüter, für die sogenannten "Low Culture"
nicht möglich gewesen wäre, so eignet der nach innen gerichteten
Optik, wie sie beispielsweise das Schweizer Künstlerpaar Peter Fischli
/ David Weiss betreibt, eine eigenständige künstlerische Haltung.
In ihrer 1981 erstmals gezeigten Arbeit "Plötzlich diese Übersicht"
hat das Duo 250 Objekte unterschiedlichster Herkunft - vom pathosgetränkten
Christus am Kreuz bis zum banalen Rucksack - aus ungebranntem Ton zu einer
"Überschwemmung mit enzyklopädischem Charakter" versammelt.
"Dargestellt werden", so Fischli/Weiss, "wichtige, vergessene,
entscheidende oder nebensächliche Szenen aus der Geschichte und Gegenwart
der Erde und des Menschen." [25] Neben betörenden simulativen
Momenten zeugt die Objektsammlung, wie Patrick Frey schreibt, von einem
"intensiven Staunen" [26]. Das Normale, das vermeintlich Banale
gerät im Kontext dieser Kunststrategie zum Exotischen, kippt manches
Mal gar ins Absurde und betreibt damit eine vorurteilsfreie Archäologie
unserer Lebenswelt.
Sinnentleerung und Rekontextualisierung von alltäglichen, aus ihrem
persönlichen Umfeld entstammenden Bildern, Objekten und Szenen bezwecken
bei Fischli/Weiss die Hinterfragung der kollektiven Wahrnehmung. Wo wir
nicht mehr bewußt hinschauen, weil sich unsere Augen vom gewohnten
Anblick abwenden, da gucken sie besonders interessiert und systematisch
hin. So haben sie beispielsweise weithin bekannte Ferienbildstereotypen
(Cheopspyramiden, Matterhorn etc.) oder die Agglomerationsarchitektur,
welche das Schweizer Landschaftsbild seit den 60er Jahren nachhaltig prägt,
mit Fotostudien unter die Lupe genommen. "Siedlungen, Agglomeration"
[27], wie die Künstler-Untersuchung heißt, dokumentiert ein
übersehenes Kapitel helvetischer, wenn nicht europäischer Alltagsgegenwart
und belegt die Uniformität der menschlichen Behausung, die, unabhängig
von Zeit, Ort und Bewohner, eine gleichsam identische Erscheinung zeitigen.
Verwandte künstlerische Strategien verfolgen der japanische Fotograf
Nobuyoshi Araki, der Schweizer Stefan Banz oder die deutschen Fotokonzeptkünster
Gerd und Hilla Becher. Mit einer visuellen Untersuchungsanordnung haben
sie die industriegeschichtlichen Wurzeln Deutschlands ins Zentrum eines
enzyklopädischen Werkes gerückt. Stillgelegte Kohlefördertürme,
außer Betrieb gesetzte Wasserspreicher wurden vom Fotografenpaar
quasi-archivalisch mit einer sachlichen Optik in Schwarzweißbildern
festgehalten. Die derart dokumentierten ehemaligen Alltagsindustrieobjekte
besitzen einen hohen ästhetischen Gehalt, sind aber auch archäologische
Zeugen eines ausgemusterten Weltbildes, verweisen damit im Zeitalter von
virtuellen Realitäten auf die letztlich immer noch physische Dinglichkeit
unseres Seins und halten dem von der medialen Simulation verführten
Blick die Fremdheit der eigenen Zivilisation vor.
Avant-Ethno: Das Fremde im Eigenen
Fremdheit zur Welt (auch zur eigenen) ist, um mit Adorno zu sprechen,
eine Voraussetzung für moderne Kunst. [28] Damit ist eine bewußt
gewählte Distanz zu herkömmlichen Betrachtungsweisen unseres
Kosmos gemeint. "Das ist keine Kunst, das ist nicht schwer (Redensart)"
[29] persifliert das Schweizer Künstlerpaar Marcel Biefer / Beat
Zgraggen den Volksmund und bringt damit Grundsätzliches eines nach
innen gerichteten Zukunftsdenkens auf den Punkt. Was dem Betrachter nämlich
allzu naheliegend und vermeintlich vertraut erscheint, wurde bis vor kurzem
als unkünstlerisch erkannt und als ungültig verworfen - es war,
vom Standpunkt der Kulturökonomie aus betrachtet, nicht neu, sondern
alt. Hier scheint sich nun ein Paradigmenwechsel abzuzeichnen: "In
der letzten Zeit", schreibt Thomas McEvilley, "ist die Kunst
in einer neuen Funktion hervorgetreten (oder ist dieser Funktion wiederbegegnet):
Sie rückt die Definitionen der Identität - quer durch alle Kulturen
und interkulturell - in den Blickpunkt." [30]
Biefer/Zgraggen graben im wahrsten Sinn des Wortes nach den Wurzeln unserer
gegenwärtigen Kultur, lassen sich als Militärdienstverweigerer
in Gefängnisse einschließen (Militärkultur), werden Mitglied
in einem irischen Fußballklub (Vereinskultur), mit dem sie ihre
Kulturfördergelder im Pub versaufen, richten eine Beratungsstelle
für junge Künstler ein (Beratungskultur) oder bereisen in der
selbstdefinierten Rolle des "Beuteträgers" den afrikanischen
Kontinent (Reise- und Jagdkultur): Die subversive Simulation von Gemeinplätzen
und alltäglichen Mechanismen sei ihnen "ein Mittel, die über
der Kultur lagernde Gesellschaft zu untergraben." [31]
Gegen den versteinerten Blick an der inneren Peripherie arbeiten der
Franzose Jean-Luc Vilmouth und der kanadische Fotokonzeptkünstler
Jeff Wall. Dessen in Hollywood-Manier mit Schauspielern und Ketchup inszenierte
Bilder scheinen banale Alltagswelten darzustellen: ein Kind im Park, ein
Picknick im Grünen, eine propere Vorstadt in der Mittagshitze, Wall
Street während der Rush Hour. Zwar weist sich Wall als begnadeter
Kenner und Neu-Interpret kunsthistorischer Motive aus, doch die Rezeption
seiner Werke liebäugelt erst auf zweiten Blick mit dem Kunstkontext.
Seine eigentliche Methode ist das Aufbrechen unseres an Stereotypen geschulten
und abgestumpften Alltagsblicks, dessen Ignoranz er mit subtil-subversiven
Irritationen unterwandert.
Wall beobachtet die Phänomene mit quasi-ethnographischem Blick und
befragt mit seiner Inszenierungsstrategie den "Modus der Vorführung
(der selbst eine Form der Konstruktion des Anderen ist)" [32]. Die
Vorstadtidylle avanciert bei genauerem Hinsehen zur Bühne für
ein Familiendrama, das Kinderporträt zum Abbild der postnatalen Entfremdung
und Einsamkeit, das Straßenbild mit Obdachlosen zum Synonym der
gegenwärtigen sozialen Gleichgültigkeit. Aus der Wahrnehmung
solcher Randexistenzen entwickeln sich, wie Wall sagt, "wesentliche
Elemente der historischen Erinnerung, der Erinnerung an Werte, die vom
kapitalistischen Fortschritt marginalisiert werden und gründlich
vergessen scheinen" [33] - Werte also, die für die Entwicklung
neuer Denkstrukturen und einer neuen Weltgesellschaft von unabdingbarer
Wichtigkeit sind.
Anmerkungen
1. Zur Begriffsdiskussion der Innovationsneurose der westlichen
Kulturgesellschaft vgl. Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer
Kulturökonomie. - München/Wien 1992.
2. Die Mechanismen des Kunstmarktes haben Dieter Ronte/Holger
Bonus anhand des fiktiven Künstlers Edwin Schrotter modellhaft aufgearbeitet.
Vgl. hierzu: Holger Bonus/Dieter Ronte: DIE WA(H)RE KUNST. Markt, Kultur
und Illusion. - Erlangen/Bonn 1991.
3. Groys, Über das Neue, p. 44
4. Mit den mexikanischen Muralisten oder den New Yorker
Graffiti-Künstler hat die Kunstgeschichte alleine in diesem Jahrhundert
zwei Beispiele geliefert, wie die Branche exotische Strömungen kurzfristig
im Markt positionierte, um sie dann sehr schnell wieder zu marginalisieren.
5. Aus dem von den Indianern angefertigten Videomaterial
fertigte Turner zwei Produktionen: "Peace Between Chiefs" (1992)
und "Women's Ceremony" (1991). Vgl. hierzu: Majan Garlinski:
Auflösung des Ethnographenblicks. - Neue Zürcher Zeitung, 23.
Juni 1995.
6. Trotz einem auf Genuinität abzielenden, kulturellem
Anspruch zeigte sich beispielsweise an der 5. Biennale von Havanna bei
den ausgstellten Künstlerinnen und Künstlern ein ausgeprägter
Hang zu Kunstparadigmen der nördlichen Hemisphäre. Symptomatisch
auch, daß gerade jene Werke, die mit der Apropriation westlicher
Ästhetizismen kokettierten - beispielsweise Alexis Leyva (Kcho),
Ricardo Rodríguez Brey, Carlos Capelán oder René
Francisco/Eduardo Ponjuan -, bei den Sammlern und Galeristen am besten
ankamen.
Sinnfällig auch die Arbeit des brasilianischen Künstlers Arnaldo
Antunes, der mit seiner Text/Bild/Ton-Montage auf Video, einem multikulturellen
Mega-Mix anläßlich des Steyrischen Herbstes 1994 einen Großerfolg
erzielte.
7. Bekanntestes Beispiel ist die Benennung Venezuelas
- "Klein-Venedig", die auf die formal-funktionale Analogie von
auf Pfählen gebauten Indianerhütten zurückgeht, die Americo
Vespucci bei seiner Ankunft erblickte, wodurch er sich an Venedig erinnert
fühlte. Vgl.: Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem
des Anderen. - Frankfurt 1985.
8. Nigel Barley: Die Raupenplage. Von einem der auszog,
Ethnologie zu betreiben. - Stuttgart 1989, p.38.
9. Ebd.
10. Zum Begriff der Imagosynthese hat die Zürcher
Historikern Marysia Morkowska eine begriffsklärende Untersuchung
vorgelegt. Ihr Buch "Vom Stiefkind zum Liebling" analysiert
prototypisch die imagosynthetische Entwicklung des Schweizbildes seit
dem frühen Mittelalter und zeigt, wie sich im Spannungsfeld von Selbstverständnis,
Selbstdarstellung, Fremdbild und Propaganda prozeßhaft ein helvetisches
Selbstbewußtsein ausgebildet hat. Marysia Morkowska: Vom Liebling
zum Stiefkind. - Zürich 1995.
11. Pioniere dieser Bewegung sind Roland Barthes ("Mythen
des Alltags") und der Schweizer Verleger Walter Keller, der in den
frühen achtziger Jahren mit seiner Zeitschrift "Der Alltag"
Grundlagenarbeit leistete. Als sich das Phänomen von der subkulturellen
zur Massenbewegung wandelte, Kellers Arbeit also obsolet wurde, trennte
er sich von der Publikation.
12. Isabelle Graw / Stefan Germer, in: Texte zur Kunst
3/91. Köln 1991, S.2
13. Fritz W. Kramer: Geist, Bild, Realität. - In:
Miklós Szalay (Hrsg.): Der Sinn des Schönen. Ästhetik,
Soziologie und Geschichte der afrikanischen Kunst. - München 1990,
S. 44
14. Vgl.: Paolo Bianchi (Hrsg.): Kunstforum 118. Weltkunst
- Globalkultur. - Köln 1992.
15. Jürgen Habermas: Vergangenheit als Zukunft. Hrsg.
von Michael Haller. - Zürich 1990, S. 158
16. Der schwedisch-schweizerische Elektro-Multi Asea Brown
Boveri lancierte, als eines von vielen Unternehmen, mit diesem Slogan
eine internationale Imagekampagne, die die lokale Verwurzelung einerseits
und die weltumspannende Innovativität andererseits vermitteln sollte.
17. Paolo Bianchi: Dialogkultur, Retrovision, neue Urbanität
und das Dazwischen. - In: Kunstforum 118. Weltkunst - Globalkultur. S.77
18. Groys, a.a. O. S. 43
19. Viktor Misano in: La Biennale di Venezia. 46.esposizione
internationale di arte. - Venedig 1995, S.184.
20. Ebd.
21. Obwohl das international ausgeschriebene Projekt -
mit Entwürfen von LeCorbusier, Naum Gabo, Walter Gropius u.a.m. -
nie realisiert wurde, kamen die Machthaber nicht umhin, anstelle der Kirche
trotzdem eine architektonische Selbstinszenierung zu verwirklichen. Die
endgültige Ausführung fiel dann allerdings bedeutend kleiner
aus: Zwischen 1959 und 1961 wurde anstatt des Sowjet-Palastes das Moskva-Schwimmbad,
nach Angaben der Bauherren das "grösste Schwimmbecken der Welt",
errichtet.
22. Misiano, a.a.O. S.184
23. Paolo Bianchi bezeichnet dieses Phänomen auch
als "Retrovision" oder "Jetztzeit-Archäologie".
In: Kunstforum 118. Weltkunst - Globalkultur. S.76 ff.
24. Ilya Kabakov am 2.7.95 im Gespräch mit Claudia
Jolles über die Vorbereitungen zu seiner ersten West-Ausstellung
in der Kunsthalle Bern. - In: Ilya Kabakov. Katalog. Basel 1995.
25. Peter Fischli / David Weiss. Zitiert nach: Patrick
Frey: Plötzlich diese Übersicht. - In: Kunstforum 60. S.31.
26. Ebd.
27. Vgl. den Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in
der Kunsthalle Zürich. - Zürich 1993.
28. Theodor W. Adorno; Ästhetische Theorie. Hrsg.
von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. - Frankfurt 1970. S.39. (=Gesammelte
Schriften, Bd. 7)
29. Marcel Biefer / Beat Zgraggen: Archäologie. Agronomie.
Gastronomie - Aktionen, Ausstellungen, ausgewählt, 1983-1986. - O.O.,
o.J.
30. Thomas McEvilley: Here Comes Everybody. - In: Johannesburg
Biennale 95. Johannesburg 1995. S.57
31. Biefer / Zgraggen, a.a.O.
32. Isabelle Graw / Stefan, a.a.O.
33. Jeff Wall: Der Geschichtenerzähler. Ruinierte
Figur der historischen Erinnerung. In: Kunstforum 118. Weltkunst - Gloabalkultur.
Köln 1992. S. 257
Druckversion
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Christoph Doswald
Freischaffender Kurator und Kritiker. Lebt in Zürich, Schweiz.
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